Kein Heim, kein Geld, keine Chance

Vorarlberg / 28.08.2015 • 21:26 Uhr
Auf der Suche nach Obdach. In Bildstein dürfen Duru, Vandana, Aida, Carolea und Aurel Stefan (von links) noch eine Woche bleiben. Foto: VN/Paulitsch
Auf der Suche nach Obdach. In Bildstein dürfen Duru, Vandana, Aida, Carolea und Aurel Stefan (von links) noch eine Woche bleiben. Foto: VN/Paulitsch

Roma-Familie wohnte viele Wochen unter einer Bahnbrücke. Bis ein Anwalt aktiv wurde.

Dornbirn. Ein Zug rattert über die Brücke. Pause. Noch einer. Pause. Und wieder. An Schlaf ist nicht zu denken. Aida ist zwölf Jahre alt. Das Zelt, in dem sie gewohnt hat, hat die Polizei weggeräumt. Campen verboten. Nun ist die Bahnbrücke beim Bahnhof-Schoren in Dornbirn ihr Dach. Sie und ihre Familie teilen sich den Ort mit anderen Obdachlosen. Einige betrinken sich, andere nehmen Drogen. Klirr! Flaschen zersplittern. Jemand hat sie auf die Familie geworfen. Schon wieder.

Seit rund zwei Monaten ist Familie Stefan in Dornbirn. Vater Duru (34), Mutter Vandana (33, im fünften Monat schwanger), Sohn Aurel (19) mit Freundin Carolea (17), Tochter Aida (12). Bis vor elf Tagen lebten sie unter der Brücke.

Ein Privatmann hilft

Eines Tages spaziert Anwalt Anton Schäfer (49) durch Dornbirn. Wie immer mit ein paar Münzen in der Tasche, um Menschen etwas zu geben. Eine Frau spricht ihn an. Ob er nicht eine Schlafstelle hätte, für sie und ihre minderjährige Tochter. Er nimmt sich der Sache an – und erlebt ein Hin und Her, das er mit der Romanfigur „Hauptmann von Köpenick“ vergleicht.

Köpenick bekam keine Arbeit, weil er keine Wohnung hatte; er bekam keine Wohnung, weil er keine Arbeit hatte. Familie Stefan braucht eine Postadresse, damit es Wohnbeihilfe gibt. Die bekannten Notfalleinrichtungen würden die Familie auseinander reißen. Erwachsene dürfen für vier Tage in die Notschlafstelle, Kinder ins Kinderdorf.

Schäfer setzt sich ans Telefon, organisiert Schlafmöglichkeiten. Zunächst in einem Hotel in Dornbirn, später im Lecknertal. Seit einigen Tagen wohnt Familie Stefan in Bildstein. Die Eigentümer-Familie hat den Umbau verschoben, die Stefans dürfen noch eine Woche drinnen bleiben. Ein Dach über dem Kopf. Zumindest für weitere sieben Tage.

Die Stefans sind Getriebene. Getrieben von der Armut, von der Suche nach Essen und Obdach. Sie kommen nicht zur Ruhe. Weshalb tut sie sich das an? „Wenn es dort gut wäre, wären wir nicht hier“, übersetzt die Dolmetscherin Duru Stefans Antwort.

Dort. Damit meint er den rumänischen Ort Ploiești, 60 Kilometer von Bukarest entfernt. Die Romasiedlung der Stadt ist bekannt: 90 Prozent arbeitslos, die Bewohner hausen in Barracken, Schotterwege und Dreck hüllen das Viertel in Staub. Zur Schule geht hier niemand. Es ist eine der ärmsten Ecken der EU.

Michael Meyer (55) ist evangelischer Pfarrer in Dornbirn. Er kümmert sich um geflüchtete Roma-Familien. „Ich schätze, es sind rund 200 Menschen hier, denen es wie der Familie Stefan geht“, sagt er. Dem Gerücht der organisierten Bettlerbanden widerspricht er: „Eine Roma-Familie ist groß. Das wird gleich als Bande missverstanden.“ Auch Familie Stefan muss betteln, um überleben zu können. Mutter Vandana Stefan gesteht: „Es gefällt uns nicht. Aber sonst bekommen die Kinder nichts zu essen.“ Sie spricht rumänisch, englisch kann sie nicht. Lesen und schreiben auch nicht.

Bildung als Schlüssel

Für Pfarrer Meyer ein Hauptproblem: „Bildung ist der Schlüssel, um aus der Armut auszubrechen.“ Eine könnte bald eine Chance bekommen. Die Jüngste, Aida Stefan, darf im Herbst zur Schule. Sie wurde eingeladen, war mit der Dolmetscherin bereits vor Ort. „Ich freue mich sehr“, erzählt sie. Ihre Augen unterstreichen das. Ihr Vater lächelt, streicht der Kleinen über den Kopf und sagt: „Ich würde gerne arbeiten. Mein Sohn auch.“ Ob Aida im Herbst wirklich zur Schule darf, ist nicht fix. Ohne festen Wohnsitz gibt’s keine Sprengelzuteilung.

Vielleicht droht die Ausweisung. Anton Schäfer hält das für sinnlos: „Sie kommen wieder zurück.“ Michael Meyer fügt an: „Das ist bei vielen so. Abschiebungen verlängern das Problem lediglich“. Er plädiert, der Familie zu helfen. „Sie würden gerne arbeiten und etwas aufbauen. Sie brauchen nur Starthilfe.“ Bis dahin zählt das Notwendige: Ein Dach über dem Kopf und Arbeit. Doch ohne Wohnung keine Arbeit. Ohne Arbeit keine Wohnung. Ohne Arbeit und Wohnung keine Chance. Köpenick grüßt.