“Alterserhebung ist eine Lotterie”

Die Expertin hält nichts davon, das Alter von Jugendlichen am Schlüsselbein festzustellen.
Bregenz. Am Donnerstag lud das Land zur Tagung „Neue Heimat oder bleibende Fremde“. Mit dabei war Katharina Glawischnig, Expertin für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF) der Asylkoordination Österreich. Im VN-Interview erzählt sie, weshalb Minderjährige verschwinden, und was sie auf der Flucht erleben müssen.
In Österreich gelten 3500 bis 4000 minderjährige Flüchtlinge als vermisst. Was ist mit ihnen passiert?
Glawischnig: Für UMF gilt die Dublin-Regel nicht. Sie können einen Antrag stellen, nach Deutschland weiterreisen und dort wieder einen Antrag stellen. Es gibt aber auch eine gewisse Anzahl von Kindern, die in prekären Verhältnissen landen. Europol geht europaweit von 10.000 Kindern aus, Österreich hat keine Zahlen beigesteuert. Die Schätzung wurde von mir berechnet.
Warum gibt es keine Zahlen?
Glawischnig: Wenn ein Kind aus einer Landeseinrichtung verschwindet, muss die Abgängigkeit nach 24 Stunden gemeldet werden. Ein Kind, das aus einer Bundeseinrichtung verschwindet, wird 48 Stunden abgemeldet. Vielleicht übernachtet es bei Freunden und kommt nach einer Woche wieder? Fakt ist: Wir wissen es nicht.
Werden Kinder in Österreich Opfer von Menschenhändlern?
Glawischnig: Das ist keine große Zahl. In Italien ist die Mafia durchaus aktiv und fängt Jugendliche ab. Ich habe auch schon mitbekommen, dass Kinder auf der Balkanroute zwischendurch arbeiten mussten.
Was mussten sie machen?
Glawischnig: Ein Jugendlicher hat erzählt, dass er zwei Wochen im Haus seines Schleppers arbeiten musste, bevor er weitertransportiert wurde. In Österreich ist das weniger der Fall, aber ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass Menschen Kindern vor den Toren von Traiskirchen Angebote machen.
Welchem Risiko sind Kinder und Jugendliche auf der Flucht ausgesetzt?
Glawischnig: Es gibt immer wieder Fälle von Vergewaltigungen. Ich habe ein Mädchen kennengelernt, das den Schleppern gar nichts bezahlt hat. Wir haben verstanden, wie sie die Reise bezahlte. Grundsätzlich besteht ein großes Risiko, von den Eltern getrennt zu werden.
Das heißt, viele flüchten gar nicht allein?
Glawischnig: Das trifft vor allem bei den Jüngeren zu. Ein Beispiel: Zwischen Afghanistan und dem Iran kommt es zu Schießereien, der Eine rennt nach links, der Andere nach rechts. Oder ein Zwölfjähriger verliert seinen Vater in Serbien, und weiß, dass Deutschland das Ziel war. Der Stöpsel setzt sich natürlich in einen Zug.
Weshalb sind ältere Jugendliche allein unterwegs?
Glawischnig: Viele Burschen flüchten, wenn sie beginnen, erwachsen auszusehen. Als Kinder sind sie nicht in Konflikte involviert. Dann werden sie größer, plötzlich stehen die Taliban vor der Tür und fragen: Bist du ein guter Moslem? Die Eltern denken sich: ,Lieber du bist woanders lebendig, als hier begraben.‘
Und irgendwann kommen sie nach Österreich. Wie wird hier das Alter festgestellt?
Glawischnig: Das Schlüsselbein wird per CT untersucht. Die Methode ist umstritten. Es steht nicht fest, wie sich beispielsweise Stress auf das Wachstum auswirkt. Zudem kann sich das linke vom rechten Schlüsselbein unterscheiden. Auch die Arztwahl ist wie eine Lotterie. Während in Graz die Gutachten gut argumentiert sind, sind die Jugendlichen in Linz und Wien tendenziell älter.
Klappt die Koordination zwischen Ländern und Bund?
Glawischnig: Da hapert’s wahnsinnig. Ein Kind wird wie ein Paket zugestellt. Jemand muss den Empfang per Unterschrift bestätigen, das war’s. Die Betreuer der Landeseinrichtung wissen nicht einmal, ob das Kind geimpft wurde. Da wird mit Datenschutz argumentiert. Man kann auch die Bundesländer kritisieren, aber der Hauptkritikpunkt ist der Bund. 2000 Kinder sind noch in den Händen des Innenministeriums. Für die brauchen wir eine Lösung.
Zur Person
Katharina Glawischnig
leitet seit Mitte 2014 die UMF-Arbeitsgruppe der Asylkoordination Österreich. Koordinatorin des Netzwerks für Betreuungsstellen von UMF in Österreich, Vertreterin im Netzwerk Kinderrechte/National Coalition, Vertreterin beim Separated Children in Europe Programme (SCEP)