“Thema Türkeibeitritt ist reine Inszenierung”

Vorarlberg / 11.09.2016 • 19:49 Uhr
Erst am 3. September demonstrierten in London wieder Tausende Briten für den Rückzug vom Brexit. Foto: AFP
Erst am 3. September demonstrierten in London wieder Tausende Briten für den Rückzug vom Brexit. Foto: AFP

EU-Abgeordneter Sven Giegold warnt, dass Europa durch Nationalismen zerfallen könnte.

Schwarzach. Europa müsse in den großen Fragen gemeinsam handeln, kleinere Themen sollten aber wieder in die Hände von Nationalstaaten gelegt werden, fordert Sven Giegold, deutscher Europa-Abgeordneter der Grünen, im Gespräch mit den VN. Volksabstimmungen in einzelnen Staaten zu EU-Themen – wie in Ungarn – hält er für „populistische Inszenierungen“.

Welche Lehren soll die EU aus dem Brexit ziehen?

Giegold: Es war eine sehr knappe Abstimmung, die Briten sind völlig gespalten. Jetzt zeigt sich, dass Großbritannien alleine in der Globalisierung nicht erfolgreich sein kann. Europa muss effizienter und demokratischer werden. Das geht nicht mit dem Rückzug aufs Nationale, sondern durch Einmischen und Mitgestalten.

Ist dieses Konzept überhaupt mehrheitsfähig?

Giegold: Überall in Europa sehen die Menschen, dass es so nicht weitergehen kann. Alle großen Probleme sind internationale Probleme. Denken Sie an Flüchtlinge, an Klimaschutz, an die Wettbewerbsfähigkeit. Nur durch gemeinsame Handlungsfähigkeit kommen wir nach vorne.

Also brauchen wir, wie es so schön heißt, „mehr Europa“?

Giegold: Es muss nicht alles europäischer werden. Aber das, was wir europäisch tun, soll so demokratisch geschehen, wie wir das in den Nationalstaaten kennen. Außerdem müssen Entscheidungen im Rat öffentlich werden. Dann hört es nämlich auf, dass alles Schlechte Europa zugeschoben wird, obwohl die Mitgliedsländer zugestimmt haben.

Sollten die Regierungschefs Macht an die europäischen Institutionen abgeben?

Giegold: Es gibt einzelne Bereiche, die müssen wir europäisch lösen. Zum Beispiel brauchen wir eine gemeinsame Migrationspolitik und eine gemeinsame Steuerpolitik. Aber es gibt Bereiche, da könnten wir mehr Unterschiedlichkeit zulassen. Warum muss Europa festlegen, wie wir unsere Wasserversorgung regeln? Die Detailtiefe der Eingriffe in die kommunale Selbstverwaltung ist absurd. Es geht also nicht um ein pauschales „mehr Europa“.

Braucht die EU einen Neustart?

Giegold: Wer sagt, Europa sei erst dann eine gute Sache, wenn es komplett geändert wird, hat Europa nicht verstanden. Europa wird immer ein Kompromiss bleiben. Es ist ein historischer Fortschritt, dass man in demokratischen Institutionen um Kompromisse ringt, anstatt sich zu bekriegen.

Wie ist es möglich, gemeinsam zu handeln, wenn Staaten wie Ungarn über die Flüchtlingsverteilung national abstimmen lassen?

Giegold: Was in Ungarn geschieht, ist unerträglich. Man kann nicht in einer national inszenierten Volksabstimmung über etwas entscheiden, was längst europäisches Recht ist. Die Entscheidung liegt nicht alleine bei Ungarn. Aber das wird am Ende für die europäische Politik keine Konsequenzen haben. Entscheidungen über die Migrations- und Flüchtlingspolitik werden mehrheitlich und nicht einstimmig gefällt.

In Österreich ist es gerade in Mode, eine nationale Abstimmung zu fordern, sollte die Türkei der EU beitreten.

Giegold: Die Türkei kann auf sehr, sehr lange Zeit nicht beitreten, das ist überhaupt kein Thema. Die Verhandlungen werden geführt, das ist im Interesse Europas und Erdogans. Das jetzt zu einer zentralen Frage zu machen, ist einfach nur eine populistische Inszenierung.

In welche Richtung könnte sich die EU noch entwickeln?

Giegold: Wenn wir Klimaschutz voranbringen, Steueroasen bekämpfen und Menschenrechte schützen wollen, müssen wir gemeinsam handeln. Wenn man alles durch die nationale Brille betrachtet, wird Europa und damit unsere Zukunftsfähigkeit zerstört. Und davor habe ich ehrlich gesagt Angst.

Entscheidungen im Rat müssen öffentlich werden.

Sven Giegold

Zur Person

Sven Giegold

seit 2009 Abgeordneter im europäischen Parlament für das Bündnis 90/Die Grünen (Deutschland). Er ist Mitbegründer von Attac-Deutschland und des Tax-Justice-Networks, außerdem Mitbegründer des ISM (Institut Solidarische Moderne).

Geboren: 17. November 1969

Vortrag und Diskussion der Grünen Bildungswerkstatt mit Sven Giegold: „Wie ist Europa noch zu retten?“. Donnerstag, 15. September, 19.30 Uhr, „Saal der Wirtschaft“ im Wifi Dornbirn. Eintritt ist frei.