Ein Spitzer-Appell für menschliche Nähe

Vorarlberg / 29.03.2019 • 20:20 Uhr
Spitzer beim VN-Interview im Pfarr­center Lustenau Rheindorf. VN/Steurer
Spitzer beim VN-Interview im Pfarr­center Lustenau Rheindorf. VN/Steurer

Für den deutschen Wissenschaftsstar ist Einsamkeit erwiesenermaßen die häufigste Todesursache.

Lustenau Im Vorfeld seines Vortrags in Lustenau zum Thema „Einsamkeit – Nicht nur ein Problem des Alters“ gab der Hirnforscher den VN ein Interview. Sein Credo: Weniger Bildschirme, mehr direkte menschliche Kontakte. Digitaler Überkonsum vernichte Empathie.

 

Wo liegt die Schnittmenge bei Hirnforschung und Einsamkeit?

Spitzer Ein verrücktes Experiment mit drei Personen, die via Bildschirm miteinander Ball spielen, lieferte bemerkenswerte Erkenntnisse. Einen der Spieler schob man in einen Gehirnscanner. Man schloss ihn dann, für ihn überraschend, vom Spiel aus und schuf damit eine akute Vereinsamung. Folge: Das aktivierte im Gehirn exakt jenen Fleck, der auch bei Schmerzen aktiviert wird. Schluss daraus: Einsamkeit löst an derselben Stelle des Gehirns eine Aktivität aus wie Schmerz. Diese Erkenntnis hat massenweise andere Studien nach sich gezogen.

 

Das heißt also, Einsamkeit und Schmerz sind eine Art Zwillinge?

Spitzer Schmerz kann durch die Schaffung von Nähe gelindert werden. Auch dafür gibt es ein gutes Beispiel durch ein Experiment. Ich tu‘ ihnen weh. Dann zeige ich Ihnen ein Bild von Ihrer Familie, und die Schmerzen werden weniger, das Schmerzzentrum leuchtet gedämpfter. Auch dass Schmerzmittel gegen Depressionen helfen, lässt sich nicht von der Hand weisen. Aber natürlich ist das problematisch und kann zu einem Schmerzmittelmissbrauch führen. 

 

Sie behaupten, dass Einsamkeit die mit Abstand häufigste Todesursache ist.

Spitzer Diese Erkenntnis basiert auf einer Studie mit 300.000 Leuten, die 2010 publiziert wurde. Da hat man untersucht, welche Zustände Übergewicht und Bluthochdruck hervorrufen. 2015 wurde diese Erkenntnis verfestigt, und zwar auf Basis von 3,5 Millionen Daten. Einsamkeit verursacht bei einem Menschen mehr Stresshormone als bei einem Menschen, der nicht einsam ist. Man fand heraus, dass einsame Menschen viel früher sterben. Stresshormone lösen höheren Blutdruck und Blutzucker aus. Sie führen viel häufiger zu Herzinfarkten, Krebs, Infektionskrankheiten und Schlaganfällen.

 

Wie kann man Menschen helfen, die einsam sind?

Spitzer Ratschläge sind da nicht so gut. Das kann dann so herauskommen, wie wenn Sie einem Rollstuhlfahrer sagen, er soll doch bitte einfach mal aufstehen. Man kann einen einsamen Menschen vielleicht dazu bewegen, irgendwo hinzugehen, wo er gebraucht wird. Zum Beispiel in einen Kindergarten, wo sie gerade jemanden suchen, der den Kindern vorliest. Vielleicht wird man mit dem Betroffenen öfters reden müssen, bevor er so was tut. Aber wenn er es tut, und die Kinder freuen sich, kann das einen positiven Kreislauf auslösen.

 

Sie sind ein Mahner gegen die totale Vereinnahmung des Menschen durch die digitale Welt. Wie sollen Eltern ihre Kinder vor diesen totalen Vereinnahmung schützen?

Spitzer Eltern sollten alles tun, damit ihre Kinder nicht zu viel Zeit vor Bildschirmen verbringen, denn das sind keine realen Kontakte. Und nur reale Kontakte beugen Einsamkeit vor. Menschen müssen Empathie und Mitgefühl lernen. Das können sie nicht vor Bildschirmen. Das müssen sie im Kontakt mit anderen Menschen verinnerlichen. Der digitale Konsum von Kindern und Jugendlichen hat mittlerweile riesige Ausmaße angenommen. In den USA etwa sitzen Kinder durchschnittlich neun Stunden vor irgendeinem Bildschirm.

 

Sie waren als Student Straßenmusiker und lieben Musik. Wie gut ist Musik für das Gehirn?

Spitzer (lacht) Musik tut dem Gehirn ganz viel Gutes. Musik ist das Einzige, was ich kenne, welches gleichzeitig das Angstzentrum herunterfährt und das Freudenzentrum hinauf.

 

Kommen wir zur Hirnforschung zurück. Wo stehen wir da, wenn wir das auf einer Skala von eins bis zehn darstellen wollten?

Spitzer Ich würde sagen, dass wir heute bei eins stehen. Vor 20 Jahren waren wir bei 0,5. Immerhin hat dieser halbe Punkt Fortschritt in der Hirnforschung dafür gesorgt, dass die fünf reichsten Firmen der Welt, Apple, Microsoft, Google, Amazon und Facebook, ihr erfolgreiches Geschäftsmodell darauf aufgebaut haben und steinreich wurden.

Zur Person

Prof. DDr. Manfred Spitzer
Der 60-jährige Manfred Spitzer ist einer der renommiertesten Hirnforscher im deutschsprachigen Raum und Autor mehrerer Bücher. Seit 1998 ist er der ärztliche Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm. Spitzers Erkenntnisse fließen vor allem auch in die Pädagogik ein.