Tiere in der Stadt
Post von meiner Freundin aus Madrid. Sie wohnt in einer Mietwohnung und kann vom Fenster aus auf den Retrio-Park sehen. Ihre Tochter Martina steht auf dem winzigen Balkon und ruft: „Mama, Zeit zum Klatschen!“ Es ist Abend und auf allen Balkonen stehen Leute und klatschen, das ist zur Gewohnheit geworden. Sie danken damit den vielen Menschen, die in der Krise mit dem brutalsten Mundschutz arbeiten, den ganzen Tag damit zubringen müssen. Das ist sehr aufreibend, jeder von ihnen seufzt, wenn er davon spricht.
„Mama, schau!“, ruft Martina „Ein Schwein! Es läuft auf der Straße, wahrscheinlich hat es Hunger. Ach, wenn es doch nur herüber laufen würde, dann könnte ich ihm Serrano hinunter werfen!“
„Nicht von unserem besten Schinken“!, ruft der Vater, der im Home Office sein sollte, stattdessen aber Fußball schaut.
„Dann eben von meiner Chorizo“, sagt Martina, „die hat mir die Oma geschenkt.“
Nach dem Klatschen sitzen Mutter und Tochter in der Küche, aus dem Wohnzimmer hören sie den Vater laut das Match kommentieren.
„Weißt du noch, Martina, als wir auf dem See mit dem Boot gefahren sind?“
„Ja“, sagt Martina „und als mir mein Hut ins Wasser gefallen ist, wo der wohl ist … Ach, Mama, könnten wir doch endlich wieder in den Park und an den See, glaubst du, das wird nie mehr sein? Und meine Freundinnen vergessen mich alle, wenn ich sie dann sehe, werde ich schon eine Frau sein.“
Ihre Mama nimmt sie in die Arme: „Nein“, tröstet sie, „osos tristes, osos tristes, in einem Jahr wird alles wieder gut, ich verspreche es dir.“
„Woher willst du das wissen, Mama?“
„Weil die Ärzte es sagen und Leute, die klüger sind als wir.“
Martina läuft auf den Balkon und singt mit ihrem tiefen Stimmchen. Auf anderen Balkonen singen Frauen und Kinder mit:
A la nanita nana, nanita ea nanita ea …
Mein Kind ist müde gesegnet sei sie, gesegnet sei sie …
„Nach dem Klatschen sitzen Mutter und Tochter in der Küche, aus dem Wohnzimmer hören sie den Vater laut das Match kommentieren.“
Zwei Rehe laufen auf der Straße zum Supermarkt. Enten mit ihren Jungen spazieren zur Apotheke.
„Die Stadt gehört den Tieren“, schreibt mir meine Freundin, „das ist schön und schrecklich zugleich. Keiner schneidet die Hecken und Bäume, sie wachsen und wachsen, Blumen verwelken, und neue wachsen in die verwelkten. Alle, die ich kenne, haben die Arbeit verloren, ob sie nach der Krise wieder eingestellt werden, wissen sie nicht. Wie konnte das geschehen? Ist es die Strafe, weil wir über unsere Verhältnisse gelebt haben?“
„Niemand kann das beantworten, Schuld soll uns nicht treffen“, schreibe ich ihr.
„Ich hoffe auf Deinen Besuch im nächsten Jahr! Dann tanzen wir durch das Haus, hinaus auf die Straße. Und die Tiere nehmen wir mit. Und sind freundlich zu ihnen.“
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
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