Wem glauben?
Sie haben derzeit Hochkonjunktur. Die Gschiediles. Kennen Sie auch so jemanden, der/die auf noch so komplexe Fragen immer eine Antwort weiß? In der Firma, im Bekanntenkreis, am Stammtisch? In den Zeiten von Corona vermehren sie sich so explosionsartig wie das Virus selbst. Auch die Leserbriefseiten bleiben nicht davor verschont. Die meisten beziehen ihr „Fachwissen“ aus dem Internet. Natürlich hat es schon vor Corona viele gegeben, die in Gesundheitsfragen Dr. Google konsultiert und eine Zweitmeinung von Dr. Youtube oder Dr. Facebook eingeholt haben.
„Wäre es nicht an der Zeit, dass wir einmal erfahren, wer denn die Männer und Frauen hinter den Entscheidungen sind?“
Aber derzeit haben auch die wirklichen Experten Hochkonjunktur. Denn, machen wir uns nichts vor, die Entscheidungen der Regierungen sind nicht auf dem eigenen Mist gewachsen. Öffnung kleinerer Geschäfte, keine größeren Veranstaltungen bis Ende Juni, Schulen und Kindergärten weiter ohne Betrieb: Alles auf Expertenzuruf. So mancher fragt sich: Werden wir von Experten regiert? Die Frage ist nur, welche Experten. Ich kann mich vor den Zusendungen von Videos mit Experten kaum retten. Die meisten davon wollen mir weismachen, dass alles nicht so schlimm sei. Die derzeit streng urteilende WHO sei zu 85 Prozent von der Pharmaindustrie finanziert und ähnliche Fake News.
Manche Experten werden zu Medienstars, wie der Virologe Christian Drosten, der die deutsche Regierung berät und regelmäßige Auftritte vor Millionenpublikum hat, an der Seite von Merkel oder Gesundheitsminister Spahn. Unsere Regierung hält ihre Experten lieber unter Verschluss. Weil es den eigenen Ruhm schmälern würde? Weil sich die Experten hinter den Kulissen gar nicht so einig sind, wie es den Anschein hat? Wäre es nicht an der Zeit, dass wir einmal erfahren, wer denn die Männer und Frauen hinter den Entscheidungen sind?
Aufwind für ÖVP und CDU
Im Moment hat die Taktik Erfolg. Nach der neuesten Umfrage („profil“) ist die ÖVP mit 48 Prozent nahe an der absoluten Mehrheit, ein Zuwachs von über zehn Prozent. Die Grünen matchen sich mit 16 Prozent (plus 2,1) mit der SPÖ um Platz zwei, auch FPÖ (13 ) und Neos (6 ) sind im Abseits. In Deutschland legt die CDU plötzlich elf Prozent zu, auf 38 Prozent, und Angela Merkel feiert in der Krise Wiederauferstehung. Das ist keine so große Überraschung. In der Krise wenden sich die Bürger jenen zu, von denen sie sich am meisten die Bewältigung erwarten. Rechtspopulisten mit ihren hohlen Phrasen und dumpfen Miesmacherparolen geraten ins Hintertreffen. Man könnte aber aus den Umfragen auch herauslesen, dass die Bürger sich nach dem „starken Mann“ sehnen (männlich/weiblich). Doch wenn sich die angeblich Starken nicht oder von den falschen Fachleuten leiten lassen, geht das in die Hose. Siehe Trump, Johnson, Bolsonaro.
Angesichts der offen ausgetragenen Expertenkonflikte ist für uns Normalbürger die Frage: Wem glauben? Schon im Kleinen sind sich die Fachleute uneins, sonst hätten an diesem Wochenende nicht die Bludenzer ihren Markt geöffnet und die andern nicht. Wer recht hat, werden wir noch lange nicht wissen. Bis zur Rückkehr zur Normalität gilt: Auch für die Fachleute gibt die Wirklichkeit die Richtung vor. Nicht nur in den USA oder England können sich die Regierungen geirrt haben, auch bei uns kann sich manches als falsch erweisen. Danach werden wir alle klüger sein. Bis dahin gilt wohl: Geduld haben und vertrauen. Das fällt schwer, ist aber alternativlos.
Wolfgang Burtscher, Journalist und ehemaliger ORF-Landesdirektor, lebt in Feldkirch.
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