Sein Tagebuch
Die Mutter fand das Tagebuch ihres Sohnes, da war er bereits ein Jahr schon unter der Erde. Sie zögerte. Wollte es in der Nacht öffnen. Schenkte sich ein Glas Wein ein, atmete tief durch. Ihre Phantasie galoppierte. Was würde sie erfahren?
War Enzo wegen eines Unfalls gestorben, oder hatte er sich das Leben genommen? Sein Auto war an einem Baum zerschellt. Einer Eiche. Enzo war ein guter Autofahrer, er trank nicht, er nahm keine Drogen. Seine Frau behauptete, er sei am Steuer eingeschlafen.
Die Mutter wusste, dass ihr Sohn Probleme mit seiner Frau gehabt hatte, nicht nur ein Mal wollte er sich von ihr trennen. Einer Freundin beschrieb sie: „Kennst du die Geschichte von der Frau im Essigkrug? Die nie genug bekommen konnte? Die immer unzufrieden war? So eine ist meine Schwiegertochter. Alles hat Enzo für sie getan. Überstunden, gekauft, was er sich nicht leisten konnte, Kredite aufgenommen. Ja, dir sage ich es, einmal hat er sogar Geld veruntreut. Alles wegen ihr. Ich konnte ihn vor dem Gefängnis bewahren, ich habe ihn frei gekauft …“
„Die Mutter wusste, dass ihr Sohn Probleme mit seiner Frau gehabt hatte, nicht nur ein Mal wollte er sich von ihr trennen.“
„Frei gekauft?“, fragte die Freundin. „Sagt man so dazu?“
Die Mutter saß immer noch vor dem Tagebuch, bereits das zweite Glas Wein hatte sie getrunken.Und wer, wenn nicht ich, kümmert sich um sein Grab, ohne mich würde darauf nur Unkraut wachsen. Jeden Tag besuche ich meinen Enzo, nicht ein Mal habe ich seine Frau dort angetroffen. Wie traurig ist das. Und dann seine Kinder. Von ihr vergiftet, sie trauern nicht um ihren Vater … oder doch? Sie wollte nicht ungerecht sein. Immerhin, die Kleine hatte bei der Beerdigung geweint, laut geweint, dicke Tränen. Sie nahm sich vor, mit ihrer Enkelin über Enzo zu reden. Hatte er denn Freunde gehabt? Wem hatte er sich anvertraut? Nur ein paar Mal hatte er sie besucht, war mit ihr auf dem Sofa gesessen, und so verzweifelt war er gewesen. Der Gerichtsvollzieher in seinem Haus. So sehr schämte er sich. Wie viel brauchst du, hatte sie ihn gefragt, sie hätte alles für Enzo getan. War er so empfindlich, weil er ohne Vater aufgewachsen war? Enzo war schwach, konnte sich nicht behaupten. Wurde übergangen, ausgenützt. Aber sie hatte zu ihm gesagt und seinen Handrücken gestreichelt: Auf deine Mama kannst du dich immer verlassen. Sie würde alles für ihn geben. Eine Reise hatte sie seiner Familie bezahlt, aber Enzo: Er hatte sich beim Reisebüro das Geld zurückgeben lassen, hatte die Reise storniert. „Mama“, hatte er gesagt, „sie haben unser Haus beschlagnahmt.“
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
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