“Schießt man einen, kommt der nächste”

Vorarlberg / 13.08.2020 • 18:52 Uhr
Verhaltensbiologe Kurt Kotrschal hat mit den Wölfen im Wolfsforschungszentrum Ernstbrunn einen vertrauten Kontakt. WSC Ernstbrunn
Verhaltensbiologe Kurt Kotrschal hat mit den Wölfen im Wolfsforschungszentrum Ernstbrunn einen vertrauten Kontakt. WSC Ernstbrunn

Prof. Kurt Kotrschal kennt Wölfe durch und durch. Er sagt: Nur Herdenschutzmaßnahmen wirken.

WIEN Man sieht ihn auf Fotos in innigem Kontakt mit Wölfen. „Das ist bitte nicht die Normalität. Ich forsche über Wölfe, und in unserem Forschungszentrum sind wir mit den Tieren sehr vertraut“, betont Verhaltensbiologe Prof. Kurt Kotrschal (67) von der Universität Wien. Beim Wolfsproblem mit den vielen Schafsrissen sieht er die Politik und die Landwirtschaft auf dem falschen Weg. Vereinzelt Wölfe zu schießen, die durchziehen, würde überhaupt nichts nützen. „Bald ist der nächste Wolf da.“ Nützen würden nur gute Herdenschutzmaßnahmen. Und: Rudelbildungen hätten eher Vorteile als Nachteile, ist Kotrschal überzeugt.

 

Wie haben Sie die Wolfsrisse in Vorarlberg wahrgenommen?

Kotrschal Ich habe davon gehört, ja. Wolfsrisse in Österreich sind aber nichts Ungewöhnliches mehr. Diese passieren fast wöchentlich. Weidetiere werden gerissen, weil sie nicht geschützt sind. Wir sollten der Realität ins Auge sehen und uns an die Fakten halten. Die sagen uns, dass rund um unser Land starke Wolfpopulationen existieren. In Deutschland sind es etwa 1000 Wölfe, in Frankreich 600, aber auch in der Schweiz, in Italien und in der Slowakei gibt es Wölfe. Jungwölfe ziehen als Wanderer durch die Gegend, können 1000 Kilometer im Monat zurücklegen und kennen keine Grenzen. Fakt ist auch: Der Wolf ist EU-rechtlich streng geschützt, und das bleibt auch so.

 

Aber wie soll man denn mit dem Wolf richtig umgehen? Landwirte sind doch zu Recht verzweifelt, wenn Nutztiere gerissen werden.

Kotrschal Natürlich verstehe ich die Besitzer von Nutztieren, die auf diese Art und Weise Verluste erleiden. Aber die Lösung wird nicht das Abschießen von einzelnen durchziehenden Wölfen sein. Erschießen sie einen, ist bald der nächste da. Die wandernden Jungwölfe holen sich ihre Nahrung dort, wo sie am leichtesten zu kriegen ist. Wir werden mit Wölfen leben und unsere Nutztiere besser schützen müssen.

 

Heißt das Herdenschutzmaßnahmen mit allem, was dazugehört?

Kotrschal Ja, nur so geht es. Das ist nicht einfach und bedarf eines großen Aufwands. Das ist schon klar. Herdenschutz wird gerade jetzt von Bio Austria als Projekt betrieben. Und ich weise darauf hin, dass diese Maßnahmen mit EU-Geld abgegolten werden. Die Fördertöpfe sind voll.

 

Bauern sagen, Herdenschutz sei oft nicht möglich. Die Gebiete seien zu weitläufig. Und die Haltung von Herdenschutzhunden sei zu kompliziert und problematisch.

Kotrschal Es ist typisch österreichisch, zuerst zu sagen, warum etwas nicht geht. Natürlich geht es, wenn man will. Wir sollten uns eine andere Herdenschutzkultur aneignen. Dazu gehört etwa, größere Schafherden von 600 bis 1000 Tieren zusammenzustellen und diese von Hirten und sechs bis sieben Herdenschutzhunden bewachen zu lassen. So wie das früher auch gemacht wurde. Zu den Hunden möchte ich noch sagen: Man kann sie sehr wohl so erziehen, dass sie einerseits die Schafe bewachen, aber andererseits Menschen nichts tun. Grundsätzlich gilt: Einen hundertprozentigen Schutz und hundertprozentige Zufriedenheit im Leben mit dem Wolf wird es nie geben können.

Es gibt gerade in Vorarlberg eine große Angst vor einer Wolfsrudelbildung. Wie gefährlich wäre das für Landwirtschaft und Nutztiere?

Kotrschal Es sind, wie gesagt, die Einzelwölfe, die es auf zu wenig geschützte Nutztiere als leichte Beute abgesehen haben. Ein ganzes Rudel hingegen lässt sich dazu erziehen, Weidetiere als primäre Futterquelle zu meiden. Wenn man es den Wölfen schwer macht, an diese heranzukommen, können sich diese in der Gruppe ein Verhalten antrainieren, dass sie auf Wildtiere gehen lässt. Sie geben dieses Verhalten weiter. Abgesehen davon lässt sich eine Rudelbildung nicht verhindern oder geografisch steuern.

 

Gibt es Ihrer Meinung nach Problemwölfe?

Kotrschal Natürlich gibt es die. Das sind Wölfe, die ihre Scheu vor Menschen verloren haben. Das passiert sehr oft, wenn sie von diesen gefüttert werden. Vor zwei Jahren ist es in Polen vorgekommen, dass sich ein Wolf Kindern genähert und nach ihnen geschnappt hat. Natürlich wurde dieser Wolf geschossen. Es gibt auch Wölfe, die trotz ordungsgemäßen Herdenschutzmaßnahmen weiterhin Weidetiere reißen. Solche Tiere sind zu entnehmen. Das sieht die EU-Richtlinie auch vor. Genauso können ganze Rudel entnommen werden, wenn sich auf einer bestimmten Fläche zu viele Wölfe befinden.

 

Was spricht für die Anwesenheit von Wölfen in unseren Kulturlandschaften?

Kotrschal Ich sehe drei positive Aspekte im Zusammenhang mit der Existenz von Wölfen bei uns. Sie sind die Feinde von Füchsen und Goldschakalen, die ihrerseits eine große Diversität von kleinen Wildtieren verhindern. Der Wolf würde positiv zu dieser Diversität beitragen. Zweitens: Wo der Wolf ist, gibt es gesunde Wildbestände. Und drittens gibt es auch einen ethischen Aspekt: Ist der Mensch alleine berechtigt zu bestimmen, wer hier leben darf und wer nicht? Ich möchte auch noch erwähnen, dass in Umfragen 70 Prozent der Befragten für die Anwesenheit von Wölfen in unseren Breiten sind.

 

Woher rühren Ihre umfassenden Kenntnisse zu Wölfen?

Kotrschal Ich erforsche Wölfe in unserem Wolfsforschungszentrum in Ernstbrunn. Derzeit haben wir dort 14 Tiere. Bald werden es wieder mehr sein.

„Herdenschutzmaßnahmen sind nicht einfach. Sie bedeuten einen großen Aufwand.“

Zur Person

Prof. Dr. Kurt Kotrschal

Kurt Kotrschal ist 67 Jahre alt und Professor für Verhaltensforschung an der Universität Wien. Er ist ein profunder Kenner von Wolf und Hund und hat mehrere Bücher im Zusammenhang mit dem Verhältnis von Mensch zu Wolf und Hund veröffentlicht. Er war Mitbegründer des Wolf Science Center in Ernstbrunn 2008. Kurt Kotrschal ist verheiratet und hat zwei Kinder.