Unendlicher Zynismus
Es ist wie Krieg. Das jedenfalls ist die einzige Zeit, in der solche Worte nicht außergewöhnlich wären: Außenminister Alexander Schallenberg lehnt es selbst nach der Brandkatastrophe von Moria ab, Flüchtlinge aus dem überfüllten Lager auf der Insel Lesbos (Griechenland) zu übernehmen. Entsprechende Forderungen tut er als hysterisches „Geschrei“ ab, das ihn offenbar anwidert. „Es geht immer nur um ein paar hundert Kinder“, argumentiert er. Und überhaupt: Wenn man ihnen hilft, dann würden andere nachkommen. Frei nach Schallenberg bedeutet das, dass man sie weiter dem Elend überlassen muss. Inklusive der Opfer, die es aufgrund der unhygienischen Bedingungen und der sinkenden Temperaturen unweigerlich gibt. Menschenleben zählen in dieser Art Kriegszustand wenig bis nichts.
„Menschenleben zählen in dieser Art Kriegszustand wenig bis nichts.“
Alexander Schallenberg ist ein intelligenter Mann mit guten Manieren. Umso erschreckender ist seine Haltung. Versuchen wir dennoch, ihn nachzuvollziehen. Was korrekt ist: Wenn sich in Asien oder Afrika herumspricht, dass man in Europa aufgenommen wird, sobald man es irgendwie dorthin geschafft hat, dann ist das ein Motiv, sich auf den Weg zu machen. Andererseits: Die Gefahr, im Meer zu ertrinken oder in einem Lkw zu ersticken, bleibt. Das sollte man nicht unterschätzen.
Türkis ist das neue Blau
In Wirklichkeit geht es hier jedoch um Parteipolitik im Allgemeinen und Wahlkampf im Besonderen: Schallenberg arbeitet für die neue ÖVP. Sie wiederum hat entdeckt, dass man mit einem kompromisslosen Kurs gegen Flüchtlinge die Freiheitlichen pulverisieren und grandiose Wahlerfolge feiern kann. Am 11. Oktober etwa bei der Wiener Gemeinderatswahl. Türkis ist auch hier das neue Blau. Man kann nicht einmal von einer konsequenten Politik reden. Es ist einfach nur eine durchschaubar-zynische. Und zwar in vielfacher Hinsicht: Leute wie Schallenberg reden tagein, tagaus von „Hilfe vor Ort“. UNHCR, der wichtigsten Organisation in diesem Bereich, hat Österreich heuer jedoch erst 0,8 US-Dollar pro Kopf überwiesen. Selbst die USA von Donald Trump haben sechs Mal mehr erübrigt. Ganz zu schweigen von skandinavischen Ländern wie Schweden, das nicht nur sehr viele Asylwerber aufgenommen hat, sondern auch dazu beiträgt, dass in ihrer ursprünglichen Heimat möglichst viel getan werden kann – es hat 10,7 Dollar pro Kopf lockergemacht, also dreizehn Mal mehr als Österreich.
Geschäftsgrundlage
Seit einigen Jahren geht die Zahl der Flüchtlinge zurück, Corona hat diesen Prozess beschleunigt. 2019 haben zudem sogar mehr Syrer, Afghanen und Iraker Österreich verlassen als hierhergekommen sind. Aber das spielt für die ÖVP keine Rolle. Sie tut lieber so, als hätten wir noch immer September 2015. Sie nützt nicht einmal die Zeit, konstruktive Beiträge für eine gemeinsame EU-Linie zu leisten; sie zeigt lieber nur mit dem Finger auf Brüssel und schaut, dass die EU zerstritten bleibt. Und sie macht sich auch nicht daran, die Qualität von Asylgesetzen und -verfahren zu verbessern, damit Anträge endlich vernünftiger und vor allem auch schneller entschieden werden können. Sie zieht es vor, sich gnadenlos zu geben und sich damit zu profilieren. Das ist ihre Geschäftsgrundlage.
Johannes Huber betreibt die Seite dieSubstanz.at – Analysen und Hintergründe zur Politik. johannes.huber@vn.at
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