Historische Biografie: Vom Amanuensis zum Professor

Vorarlberg / 25.10.2020 • 10:00 Uhr
Historische Biografie: Vom Amanuensis zum Professor
Dr. Luzius Hanni um 1910 in Wien. Bildquellen: Renate Di Matteo, Risch-Lau/
Vorarlberger Landesbibliothek, Richard Sonderegger

Meinrad Pichler über den Mathematiker Luzius Hanni (1875–1931) aus Göfis.

Der Lehrer in der Göfner Sprengelschule Agasella war angetan von den beiden Hanni-Kindern. Sie waren gepflegter, aufgeweckter und lernbegieriger als die meisten der übrigen Bauernkinder. Verantwortlich dafür war in erster Linie die Mutter Kreszentia Hanni. Sie hatte erst im Alter von 36 Jahren den Landwirt Franz Xaver Hanni aus dem Ortsteil Runggels geheiratet und deshalb nur zwei Kinder, denen ihre ganze Aufmerksamkeit gehörte. Da die Bäuerin aber nicht nur eine bildungsbeflissene, sondern auch fromme Frau war, wurde ihr Sohn nach dem Pfarrpatron von Göfis auf den Namen Luzius getauft. Das am 31. März 1875 geborene Knäblein war allerdings so schwach, dass es von der Hebamme notgetauft werden musste. Auch in späteren Jahren waren seine Geistesgaben der körperlichen Robustheit überlegen.

1879 brachte Frau Hanni ein gesundes Mädchen zur Welt, das ihrem Bruder nacheiferte und zeitlebens in enger Verbindung zu ihrem studierten Bruder blieb. „Besonders die Mutter setzte alles daran“, wusste ein Kenner der Familie, „um aus ihren Lieblingen recht brave Menschen zu erziehen. Sie hätte es am liebsten gesehen, wenn ihr Mädel eine Klosterfrau und der Knabe ein tüchtiger Geistlicher geworden wäre.“ Beide schlugen aber andere Wege ein. Tochter Katharina heiratete einen Dorfgenossen und führte mit ihm die elterliche Landwirtschaft. Der Sohn Luzius wurde auf Empfehlung des Pfarrers ins Brixner Gymnasium geschickt und begann nach der Matura im Jahr 1893 zusammen mit seinem Komaturanten Franz Tschan, dem späteren Feldkircher Generalvikar, ein Studium der Theologie. Nach einem Jahr aber teilte er der enttäuschten Mutter mit, dass er nach Innsbruck wechsle, um Mathematik und Physik zu studieren. Den Studienaufenthalt finanzierte er sich weitgehend als Hauslehrer bei der Familie des Innsbrucker Bezirkshauptmanns Ludwig von Sarnthein. Berühmt und für den naturwissenschaftlich interessierten Studenten Luzius Hanni anregend war Sarnthein aber nicht als Verwaltungsbeamter, sondern als Botaniker. Zwischen 1900 und 1913 veröffentlichte er das monumentale Werk „Flora der gefürsteten Grafschaft Tirol, des Landes Vorarlberg und des Fürstentums Liechtenstein.“

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Im Vordergrund die Parzelle Runggels, dahinter das Kirchdorf von Göfis.

Nach erfolgreich abgelegter Lehramtsprüfung übersiedelte der Göfner Mathematiker nach Wien, weil er sich hier günstigere Chancen für eine wissenschaftliche Karriere erhoffte. Erst aber absolvierte er an einem Wiener Gymnasium das pädagogische Probejahr und vollendete seine Doktorarbeit. Die Schulpraxis festigte in ihm den Entschluss, dass er kein Schulmathematiker werden und sein wollte.

1902 nahm er deshalb eine Stelle als Amanuensis – so lautete der unterste Amtstitel im akademischen Bibliotheksdienst und lässt sich als „Zur Hand Gehender“ übersetzen – in der Bibliothek der Technischen Hochschule an. Diese Tätigkeit ermöglichte es ihm, seine mathematischen Studien fortzusetzen. 1906 erhielt er schließlich vom k.k. Kultusministerium die Lehrbefähigung für Universitäten und an der Uni Wien einen Lehrauftrag als Privatdozent. Die Ergebnisse seiner Habilitationsschrift stellte er in einem gut besuchten Vortrag in der Österreichischen Mathematischen Gesellschaft vor. Etliche seiner zahlreichen Publikationen erschienen in den Schriften der Akademie der Wissenschaften und in ausländischen Fachzeitschriften.

Trotzdem stockte die angestrebte akademische Karriere, obwohl Hanni sich mit ganz aktuellen Fragen des damaligen wissenschaftlichen Diskurses beschäftigte und die Ergebnisse seiner Forschungen auch an wissenschaftlichen Kongressen vorstellen konnte. „Wenn Dr. Hanni es verstanden hätte“, meinte ein Freund, „seine Person äußerlich mehr zur Geltung zu bringen, würde er wohl Professor an der Wiener Universität geworden sein.“ Zudem aber – und das war ebenso hemmend – verfügte er in der Reichshauptstadt über keinerlei Protektion. Diese hatte dagegen ein anderer Bibliothekar. Als Hanni 1911 um eine Position in der Bibliothekshierarchie aufrückte, folgte auf seine bisherige Stelle niemand geringerer als der später durch seinen epochalen Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ berühmt gewordene Schriftsteller Robert Musil (1880-1942). Er hatte die Stelle auf Intervention seines Vaters, Professor an der technischen Hochschule Brünn, erhalten. Musil, der in Berlin Psychologie studiert hatte, interessierte sich aber mehr für seine literarischen Arbeiten als für die technischen Bücher. So verbrachte er beispielsweise fast das ganze Jahr 1913 wegen Herzrasens im Krankenstand und suchte Heilung in Zermatt und italienischen Seebädern. Der Unterschied zwischen den beiden Bibliothekaren hätte größer kaum sein können: hier der beflissene, dem Wiener Gesellschaftsleben fern stehende Privatgelehrte und Bibliothekar, dort der in prominenten literarischen und gesellschaftlichen Zirkeln verkehrende Mann von Welt. Wie die beiden miteinander zurechtgekommen sind, ist nicht bekannt. Vielleicht nicht schlecht, da sich Musil auch für naturwissenschaftliche Fragen interessierte und Hanni als „geistreicher Unterhalter“ galt. Jedenfalls einte sie die Tatsache, dass das Katalogisieren von Büchern für beide maximal eine Durchgangsstation auf dem Weg zu Höherem darstellte.

Nach dem Ersten Weltkrieg unternahm Luzius Hanni einen nochmaligen Versuch, eine Stelle als Hochschullehrer zu erhalten. Er ließ sich deshalb im Jahr 1921 an die Bibliothek der Technischen Hochschule Graz versetzen, weil er sich hier bessere Chancen auf einen beruflichen Umstieg erhoffte. Aber auch in Graz waren die wenigen akademischen Stellen hart umkämpft und ohne einflussreiche Mentoren kaum erreichbar.

Als 1922 der Vorarlberger Dr. Emil Schneider (1883-1961) zum Minister für Unterricht und Kultus bestellt wurde, war plötzlich auch Hanni das Glück eines Förderers beschieden. Mit Erlass vom Februar 1923 wurde der Göfner Mathematiker zum außerordentlichen Professor an der Universität Graz berufen. Von seiner Tätigkeit als Bibliothekar – inzwischen mit dem Titel eines Regierungsrats – ließ er sich entbinden. Im Alter von 48 Jahren hatte er somit die seit langem angestrebte Professur erreicht. Mit großem Elan und unterschiedlichen Themen aus dem umfangreichen Feld der höheren Mathematik widmete er sich nun der Erweiterung des mathematischen Horizonts und dem akademischen Fortkommen seiner Studentenschaft. Und dies mit Erfolg, weil er kein engstirniger Fachmann war, sondern neben seiner wissenschaftlichen Expertise einen „nie versiegenden Humor“ besaß. Er sei überhaupt, rühmten ihm seine Freunde nach, „immer ein heiterer und fröhlicher Mensch“ gewesen, deshalb sei auch seine Anwesenheit im Verein der Vorarlberger in Wien sehr geschätzt worden.

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Hannis Schwester Katharina Lampert mit Tochter im Hof des Elternhauses in Göfis.

Obwohl Hanni in Graz nun in höchsten bildungsbürgerlichen Kreisen verkehrte, blieb seine Rückbindung nach Göfis und besonders die zu seiner Schwester so eng wie in den Jahrzehnten zuvor. Der Professor verbrachte alle Sommerferien im Elternhaus in Runggels, wobei er jeweils von seiner treuen Schwester am Bahnhof Rankweil abgeholt wurde. Er genoss das einfache Landleben und die Gastfreundschaft im Elternhaus, half beim Heuen und besuchte alte Freunde in Feldkirch. Auch die Weihnachtsferien 1930/31 hatte er in Göfis verbracht, und als er im März 1931 am Packen war und die Fahrkarte bereits gekauft hatte, um auch die Osterferien im Haus seiner Schwester zu verbringen, traf ihn ein Herzschlag. Nach kurzem Leiden verstarb er am 16. März 1931 in seiner Wohnung im Grazer Vorort Waltendorf. In einer erhebenden akademischen Feier an der Universität Graz wurde der beliebte Professor verabschiedet und dann seinem letzten Willen entsprechend in Göfis beigesetzt. Mit Prof. Luzius Hannis Tod, so der Grazer Rektor in seiner Trauerrede, sei „eine Leuchte der Wissenschaft erloschen“. Auch in anderen Nachrufen werden Hannis Beiträge zu mathematischen Problemen und Fragestellungen als bedeutend anerkannt, obwohl der Wissenschafter aus Göfis kein lauter Verkäufer seiner Forschungsergebnisse war. Neben dem Feldkircher Georg Joachim Rhäticus (1514-1574) und Prof. Josef Anton Gmeiner (1862–1927) aus Bizau war Luzius Hanni der einzige Mathematiker aus Vorarlberg von nationaler Bedeutung und internationaler Reputation.

Die in dieser Reihe vorgestellten Biografien beschäftigen sich nicht nur mit individuellen Lebensläufen. Vielmehr geht es um Menschen in und aus Vorarlberg, an deren Schicksalen sich die jeweiligen politischen Rahmenbedingungen, die sozialen Verhältnisse und die kulturellen Gegebenheiten besonders sichtbar spiegeln. Alle beschriebenen Personen haben entweder aktiv und auf unterschiedlichste Art in die Verhältnisse gestaltend eingegriffen oder sind mehr oder weniger Opfer derselben geworden. Alle haben Spuren hinterlassen, auf denen wir Nachgeborene auf die eine oder andere Weise weitergehen. So scheint es nur angemessen, sich ihrer Leistungen und Kämpfe zu erinnern. Meinrad Pichler, Historiker und pensionierter Gymnasialdirektor.