Zeit der Stille
Immer heftiger wurde in den letzten Dekaden bedauert, dass die ehemals stillste Zeit des Jahres, Advent und Weihnachten, zur hektischsten, stressreichsten und lautesten geworden sei. Geschäftigkeit, Termindruck, Kaufrausch und Geschenkzwang hätten den Abschnitt der Ruhe ins Gegenteil pervertiert und den eigentliche Sinn der Festzeit zerstört, wurde zu Recht geklagt. Nicht einmal die Phase der schlafenden Natur, der langen Dunkelheit und der freudvollen Erwartung könne dem Menschen noch Entschleunigung und Besinnlichkeit bringen – ganz im Gegenteil. Karl Valentin, wie jeder Kabarettist ein großer Psychologe, hat dieses Gefühl auf seine unnachahmliche Weise auf den Punkt gebracht: „Wenn die stille Zeit vorbei ist, dann wird es auch endlich wieder ruhiger!“
„Völlige Reizabschirmung öffnet das Tor nach innen, auch in die spirituelle Dimension.“
Je hektischer das Leben, desto größer die Sehnsucht nach Ruhe, und je lauter die Welt, umso mehr braucht der Mensch manchmal Stille. Kaum etwas hilft bei Negativstress, Überlastung und Erschöpfung rascher, intensiver und einfacher als totale Breaks, wie es Momente der Stille darstellen. Um es ganz rational auszudrücken: Ein Computer im Dauereinsatz muss manchmal ganz heruntergefahren werden.
Die positiven psychischen Effekte der Stille sind unbestreitbar: Wir können uns von Alltagsproblemen distanzieren und Ruhe finden. Sie wirkt entspannend und regenerativ, sie lässt uns neue Kraft schöpfen. Unsere Gedanken gewinnen in der Stille an Tiefgang und unsere Gefühle neue Qualität. Stille steigert das Konzentrationsvermögen, verbessert das klare Denken und fördert die Kreativität. Völlige Reizabschirmung öffnet das Tor nach innen, auch in die spirituelle Dimension. Gesuchte Stille darf aber nicht mit Einsamkeit verwechselt werden, schon gar nicht mit Vereinsamung, die vom bedrückenden Gefühl von Alleinsein und Verlassenheit geprägt ist.
Keinesfalls soll die Pandemie verharmlost und deren Belastung auch für die Psyche schöngeredet werden. Ebenso wenig soll der Spruch von der „Krise als Chance“, so richtig er auch ist, ein weiteres Mal strapaziert werden. Zweifelsohne bringt die Seuche aber neben allen Einschränkungen und vielem Leid auch einiges an Kollateralnutzen. Dazu gehören der stressreduzierende Effekt auf unser Leben und das Innehalten für den Organismus der Seele, wenigstens einmal im Jahr. Wenn wir diese Sichtweise zulassen und unsere Einstellung erweitern können, erfüllt der Lockdown einen sehnlichen Wunsch vergangener Jahre: Er hat Advent und Weihnachten 2020 wieder zur stillen Zeit gemacht.
Univ.-Prof. Prim. Dr. Reinhard Haller ist Psychiater, Psychotherapeut
und früherer Chefarzt des Krankenhauses Maria Ebene.
Kommentar