Stresstest
In der Saison 2018/2019 sind in Österreich rund 1.400 Menschen an oder mit Grippe gestorben – nicht zuletzt deshalb so viele, weil es so gut wie keine ansteckungsvermeidenden Maßnahmen gab. Innerhalb des letzten Jahres hatten wir 7.721 an oder mit Corona Verstorbene, obwohl teilweise drastische Maßnahmen ergriffen wurden, um das Infektionsrisiko zu verringern. Wenngleich die Ansteckungsraten – allerdings nur langsam – zurückgehen, sind wir von der gewohnten Normalität des Lebens wohl noch längere Zeit weit entfernt.
„Das Virus verzeiht keine Fehler und stellt unsere Verhaltensweisen auf die Probe.“
Der Stresstest für die Gesellschaft und die Politik ist also noch nicht zu Ende. Unverkennbar ist aber, dass die Belastbarkeit der Menschen und das Vertrauen in die Problemlösungskompetenz der Politik schwinden. Manches davon ist die Folge hausgemachter Nachlässigkeiten, manches ist aber wegen der Einzigartigkeit der Pandemie unausweichlich und ein weltumspannendes Problem. Das, was in einzelnen Ländern als beispielhafte Krisenbewältigung angesehen wird, würde in einer offenen Gesellschaft wie bei uns völlig unbekannte Freiheitsbeschränkungen voraussetzen. Dabei werden bereits hierzulande getroffenen Maßnahmen als Schikane angesehen, was sich in zahlreichen Demonstrationen ein Ventil schafft. Dass dabei ganz unverhohlen die Polizei zum zivilen Widerstand gegen staatliche Maßnahmen aufgerufen und Widerstand in völlig geschmackloser Weise mit jenem gegen die NS-Diktatur verglichen wird, macht deutlich, wie wohlmeinende Demonstranten aus dem Hintergrund politisch instrumentalisiert werden.
Die Verheißung, dass Geimpfte bald wieder frei von Beschränkungen sein werden und ihr gewohnt normales Leben führen können, ist wie so vieles andere wenig durchdacht. An eine Impfung geknüpfte Vorteile würden verfassungsrechtlich so lange problematisch bleiben, als es keinen freien Zugang zur Impfung gibt und nicht jeder, der es möchte, geimpft werden kann. Selbst eine Befreiung vom Tragen des Mund-Nasen-Schutzes wäre in der Praxis nicht umsetzbar, weil es kaum kontrolliert werden könnte und deshalb dazu führen würde, dass Nichtgeimpften die Motivation zum Tragen der Maske rasch abhandenkäme.
An der nachhaltigen Vermeidung von Ansteckungsrisiken, regelmäßigen Tests und einer raschen Impfung für einen Großteil der Menschen führt also kein Weg vorbei. Da hapert es derzeit aber noch ganz gewaltig, vor allem weil der von der EU vereinbarte Nachschub an Impfstoff stockt. Das Problem dabei ist allerdings: Das Virus verzeiht keine Fehler und stellt unsere Verhaltensweisen auf die Probe. Auf diesen Lernprozess werden wir vermutlich noch öfters angewiesen sein.
Jürgen Weiss vertrat das Land als Mitglied des Bundesrates zwanzig Jahre lang in Wien und gehörte von 1991 bis 1994 der Bundesregierung an.
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