Immer diese Angst
„Fürchte dich nicht“, sagte der Mann in dem Film zu dem Mädchen, das vor ihm kniete.
„Ich habe nichts getan“, sagte das Mädchen, „Sie verwechseln mich, ich bin unschuldig.“
Darauf wieder sagte der Mann, der gewöhnlich aussah, wie ein Angestellter oder ein Vater: „Ich will dich nicht bestrafen, ich will dich beschützen.“
„Weshalb bestrafen, wovor beschützen?“
„Du weißt es, wenn du nachdenkst. Denk über dein siebzehnjähriges Leben nach, und du wirst es wissen.“
„Ich weiß nichts. Lassen Sie mich gehen.“ Das Mädchen sah verängstigt aus, aber auch empört, denn so sehr sie ihr Gewissen erforschte, nichts wollte ihr einfallen. Nichts Unrechtes. Nichts Böses. „Sind Sie etwa ein Richter höherer Gnaden“, sagte sie. Das war ein Zitat aus einem Wildwestfilm.
„Ich bin dein Beschützer, ich sorge für dein Wohl, ich bin der, der dich retten kann.“
„Wovor soll ich gerettet werden?“
Ja, da gäbe es schon einiges. Vor ihrem Vater, der von ihr verlangte, was sie nicht konnte, große Erfolge bringen. Was denn für Erfolge? Die Mutter, die ihr erklärte, was der Vater meinte: Sie, die Tochter, sollte das vollbringen, was der Vater nie zustande gebracht hatte. Und auch sie nicht, die Mutter.
Beide waren sie gescheitert. Wollte man gnädig sein, kleine Erfolge gab es zu vermelden, kleine und jämmerliche.
„Sie, die Tochter, sollte das vollbringen, was der Vater nie zustande gebracht hatte. Und auch sie nicht, die Mutter.“
„Bitte!“, sagte das Mädchen, immer noch mit blanken Knien auf dem eisigen Boden. „ich, die Tochter, will nur eine Mutter werden, die Kinder hütet, sie liebhat, dazu einen Mann, der mich liebhat und Kinder, wir also zusammen in einem Paket, wir wollen sein wie blühende Kartoffeln mit violetten Blüten. Wir wollen zu den Gewöhnlichen gehören, weil wir nämlich uns vor dem Absturz fürchten, vor der Höhe, die in die Tiefe weist. Bitte was immer Sie sind, lieber Geist, lassen Sie mich sein, was ich im Innersten bin, ein normales Mädchen mit normalen Wünschen, kleinen Wünschen! Bitte, lassen Sie Gerechtigkeit walten, wer gibt Ihnen denn das Recht, zu urteilen über so eine Unbedeutende wie mich?“
„Halt die Klappe!“, sagte der Mann im Film, „du bist für nichts zu gebrauchen, nicht einmal für eine winzige Szene! Geh nach Hause in den Kuhstall und streichle deinen Freund, auf dass er dir Kinder mache, die dich nerven, dir keine Ruhe lassen, an denen du dir die Zähne ausbeißen wirst.“
„Wissen Sie was?“, sagte das Mädchen und stand mühsam auf, die Knie waren rot und geschwollen. „Wissen Sie was, ich gehe. Schieben Sie sich Ihre großen Pläne, Sie wissen schon wohin! Ich will ja nicht ordinär werden.“
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
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