Wolfgang Burtscher

Kommentar

Wolfgang Burtscher

Neue Freiheit

Vorarlberg / 10.05.2021 • 07:00 Uhr

Die konservative Präsidentin der Region Madrid hat soeben einen haushohen Wahlsieg gelandet. Sie verdankt ihn einem einfachen Rezept, nämlich möglichst wenig Einschränkungen in der Pandemie. Was hat das mit uns zu tun? Dieses Wahlergebnis zeigt, dass die Politik beinahe gezwungen ist, auf die Pandemiemüdigkeit der Bevölkerung zu reagieren. Am Anfang der Krise haben Politiker gepunktet, denen man zugetraut hat, mit drastischen Maßnahmen erfolgreich zu sein. Siehe die Umfragewerte für Kurz, die vor einem Jahr geradezu durch die Decke gegangen sind. Das hat sich dramatisch geändert, bei Kurz sicher auch aus anderen Gründen. Oder der deutsche Gesundheitsminister Spahn: Zunächst mit tollen Werten – nach dem Desaster bei der Impfstoffbestellung plötzlich als rücktrittsreif befunden. Jetzt punkten jene, die den Leuten Freiheit zurückgeben. Wer nur auf den Rat von Ärzten und Virologen hört und zu stark bremst, verscherzt es sich mit des Volkes Sympathie.

„Wenn Politiker gegen den Rat der Experten den Lockdown zurücknehmen, gehen sie ein hohes Risiko ein.“

In Österreich war Vorarlberg der Lockdown-Brecher, begünstigt durch damals niedrige Inzidenzzahlen, argwöhnisch beäugt von den anderen Ländern. Sebastian Kurz, mit dem ihm eigenen Gespür für des Volkes Wille, hat im April Öffnungsschritte für die Zeit ab dem 17. Mai angekündigt und die Öffnung in Vorarlberg trotz steigender Zahl an Infizierten mitgetragen. Fast gleichzeitig ist der burgenländische Landeshauptmann Doskozil vorgeprescht und aus dem Lockdown der Ostregion ausgestiegen. Mit scharfer Kritik seiner Parteivorsitzenden Rendi-Wagner, der Doskozil nichts schuldig geblieben ist. Zitat: „Die Verantwortung für den Kurs der Bundespartei trägst Du, liebe Pamela“. Und siehe da, auch Wien hat jetzt eine Öffnung angekündigt. Mit dem Ergebnis, dass in den ersten offenen Tagen viele Restaurants zwei Wochen vorher schon ausgebucht sind. Auch bei SPÖ und Neos, die noch vor einem Monat eine rasche Rückkehr zu den Grundrechten für Geimpfte und Genesene im Bundesrat blockiert hatten, ist plötzlich Einsicht eingekehrt. Sie haben, spät aber doch, den Weg für Erleichterungen für vollständig Geimpfte freigemacht. Eine Woche früher, bevor diese Erleichterungen ohnehin in Kraft getreten wären. Jetzt sind, unter dem wachsenden Druck der Bevölkerung, soeben die ja nimmer weniger plausiblen Grundrechtseinschränkungen für Geimpfte und Genesene sogar in Deutschland gefallen, das Einschränkungen schon bei wesentlich niedrigeren Inzidenzzahlen als Österreich verfügt hat.

Wenn Politiker gegen den Rat der Experten den Lockdown zurücknehmen, gehen sie ein hohes Risiko ein. Ob ihre Entscheidung richtig war, werden wir wie so vieles in der Pandemie erst später beurteilen können. Wehe, wenn die Sache schiefläuft! Dann werden jene, die die Öffnungen gerade noch bejubelt haben, sagen, sie hätten es doch gleich gewusst, dass das nicht gut gehen kann. Der burgenländische Landeshauptmann kann darauf verweisen, dass sein Land die niedrigsten Inzidenzzahlen hat und plötzlich auf „orange“ herabgestuft worden ist. Vorarlberg, das wegen der zahlreichen lokalen Cluster viel Häme einstecken musste, hat mit regional differenzierten Maßnahmen, etwa lokaler Ausreisetestpflicht, die Sache möglicherweise in den Griff bekommen. Für die damit verbundenen täglichen Staus dürfen sich die Autofahrer bei jenen bedanken, die in Scharen privat gefeiert haben. Die heimische Zwischenbilanz lautet: Gestiegene Corona-Fälle (aber ohne Überlastung der Intensivstationen) versus mehr Freiheit und gestiegenes Lebensgefühl, sowie mehr Besuche in Seniorenheimen und Aufatmen der Wirtschaft. Gibt es also einen dritten Weg zwischen Zusperren und totaler Freiheit, aber mit hohem Gesundheitsrisiko? Bald werden wir es wissen.

Wolfgang Burtscher, Journalist und ehemaliger ORF-Landes­direktor, lebt in Feldkirch.