Der Geschichtenzuträger
Ein Erzählkranz in 10 Teilen, Teil 3
Wieder stieg ich in den Zug nach Wien, und vor mir stand Karl. Zum Empfang, wie er sagte.
„Und wenn ich diesmal allein fahren will?“, fragte ich.
„Dann ziehe ich mich augenblicklich zurück.“
„In ein anderes Abteil?“, fragte ich.
„Nein, dann muss ich aussteigen, dann ist mein Tag verdorben.“
Sollte ich auf diese Erpressung eingehen? Ich überlegte. Da fuhr der Zug schon ab.
„Karl schrieb in ein Heft, schaute aus dem Fenster. Schrieb er , was er gerade sah?“
Karls Kopf war kahl rasiert. Was war passiert?
„Was ist mit Ihren Haaren passiert“, fragte ich.
„Es musste ein neuer Anfang gesetzt werden, alles von vorne. Nicht mehr so eingesperrt sein wie ein Asylant in einem Viehwaggon.“
„Makabre Formulierung“, fand ich, „geschmacklos.“
„Lassen Sie mich erklären“, sagte Karl und setzte sich mir gegenüber.
Ich schaute in mein Buch und nahm mir vor, ihn zu ignorieren. Aber dann interessierte mich doch, was er zu sagen hätte. Er schaute aus dem Fenster, ich fühlte mich beobachtet und konnte mich nicht konzentrieren. Offensichtlich war Karl ein Mann mit romantischen Denkgewohnheiten. Er könnte mich beflügeln. Ein Schriftsteller ist ein Vampir und saugt andere aus.
„Ja“, sage Karl, als würde er gerade in einem angefangenen Gespräch weiterreden, „meine Frau war ein Einrichtungsgegenstand. Das waren ihre Worte. Ich habe das nie so gesehen. Ich wusste nur, ich habe alles falsch gemacht. Als ich ihr, vor weiß wie vielen Jahren, gesagt hatte, dass ich sie liebe, meinte ich in Wahrheit, du gehörst mir, das war mein erster Fehler. Lange schon lebe ich ohne sie.“
„Bitte, sagen Sie nicht, dass ich sie an Ihre Frau erinnere.“
„Wieso wissen Sie, dass Sie das tun?“
„Es war nur so gesagt. Wo haben Sie ihre italienischen Schuhe?“
„Bei der Reparatur, die Sohle hat sich gelöst. Und Ihre orthopädischen?“
„Die sind mir zu warm.“
Karl schrieb in ein Heft, schaute aus dem Fenster. Schrieb er gerade, was er sah? Ich wollte nicht fragen, um keine Diskussion zu entfachen. Kennen Sie das, man versucht zu lesen, sich jeden Satz einzuprägen und merkt, es funktioniert nicht. Man wiederholt den Satz, schaut vom Buch auf und lässt sich den Satz noch einmal durch den Kopf gehen. Ich schweife ab, denke an meinen Mann, was er wohl gerade macht, seinen Lieblingsweg am alten Rhein entlang spaziert, sich auf seine Lieblingsbank setzt, sein Büchlein herausnimmt, den Bleistift, und mit seiner winzigen Schrift hinein schreibt. Ob er meine Tomaten gießt, die Katzen füttert …
„Darf ich Sie noch bitten, nachdem ich Sie so lange nicht gestört habe, mir einen Satz aus Ihrem Buch vorzulesen.
„Die Welt ist ohne den Menschen geboren und wird ohne ihn enden.“ (Zitat: Claude Levi-Strauss – aus „Traurige Tropen“)
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
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