Fast ein ganzes Jahr
Fast ein ganzes Jahr war ich nicht in Vorarlberg. Letzten Juli habe ich meine Familie das letzte Mal gesehen und umarmt, und seither war Pandemie. Jetzt habe ich seit vielen Wochen mit Sehnsucht im Herzen ans Ländle gedacht, nicht zuletzt deshalb, weil bei euch ja eine Art von Normalität schon länger wieder eingekehrt ist und in Wien erst seit letzter Woche. Im Unterschied zu den Vorarlbergerinnen war ich dieses Jahr erst einmal in einem Gasthaus und bekam gutes Essen und Wein an einem fein gedeckten Tisch serviert. Ich habe mir dafür extra die Nägel lackiert und zum ersten Mal seit Monaten Schuhe angezogen, die diese Bezeichnung auch verdienen. Mir gegenüber saß ein alter Schulfreund, den ich vor dem ersten Lockdown das letzte Mal gesehen hatte. Ich habe mich in den Wochen zuvor an ihn erinnert, weil ich vor sehr vielen Jahren mit ihm gemeinsam maturiert hatte. Wir hatten die gleichen Fächer gewählt und dann wochenlang gemeinsam gelernt, bei ihm oder bei mir zu Hause, und dann schlossen wir überraschend gut ab, also hinsichtlich der Tatsache, dass wir zuvor beide ein Jahr wiederholt hatten. Weil meine Teenager jetzt Matura machten, dachte ich viel an diese Zeit zurück, dann rief ich ihn an und wir trafen uns und redeten über die alten Zeiten und die alten Schulkameradinnen, und wie sich alles verändert hat, jetzt wo unsere eigenen Kinder erwachsen werden.
„Im Unterschied zu den Vorarlbergerinnen war ich dieses Jahr erst einmal in einem Gasthaus.“
Auch wegen der Matura konnten wir nicht schon früher ins Ländle fahren, obwohl die Erwachsenen jetzt schon geimpft sind, Gott sei Dank! Aber jetzt ist auch die Matura erledigt, und gestern hielten wir eine nicht unkomplizierte Terminkonferenz ab, fanden eine Lücke zwischen Maturareisen, Lesungen und Ferienplanungen, in der wir tatsächlich alle Zeit haben, und heute habe ich die Zugtickets gebucht.
Und jetzt kann es losgehen mit der Vorfreude: auf die Ankunft am Bahnhof und die ersten innigen Umarmungen mit meinen Eltern nach langer, langer Zeit. Auf die Brätknödelsuppe, die meine Mutter immer für mich kocht, wenn ich ankomme. Auf meine Geschwister und ihre Kinder und Partner und noch mehr Umarmungen, und auf die Sprudel-Getränke, mit denen wir darauf anstoßen werden, dass wir uns endlich wieder sehen können. Auf die Gespräche und die Erzählungen, wie es allen geht, wie wir die Zeit der Pandemie überstanden haben. Auf die Berge und auf die morgendlichen Spaziergänge mit meinen Schwestern und dem Hund die Frutz entlang. Auf meinen Platz auf der Küchen-Eckbank und die Gespräche mit meiner Mutter, während sie mich verwöhnt, als wäre ich immer noch ein Kind, das lässt sie sich nicht nehmen. Auf die Nachmittage mit der ganzen Familie, und auf meine alten Freunde. Es wird so schön, ich freue mich wie verrückt.
Doris Knecht ist Kolumnistin und Schriftstellerin. Sie lebt mit ihrer Familie in Wien und im Waldviertel.
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