Der Geschichtenzuträger
Ein Erzählkranz in 10 Teilen, Teil 9
Karl trug einen Sonnenhut. In letzter Sekunde war er in den Zug eingestiegen. Seine Schuhbänder waren offen. Er sah verschwitzt aus, erschöpft, die Haare durcheinander. Er ließ sich in den Sitz fallen.
„Karl?“, fragte ich. „Was ist mit Ihnen?“
Er musste erst tief durchatmen. „Ich kam zu einem Unfall“, sagte er. Er sprach leise, so dass ich mich vorbeugen musste, um ihn zu verstehen. „Ein Kind wurde überfahren. Es war aber nicht tot, ich sag’s gleich. Blut in den blonden Locken. Geschrei einer Frau, wahrscheinlich der Mutter. Der Rettungswagen. Der Notarzt. Ich war ohne Schuld in die Mitte des Aufruhrs geraten. War eingekeilt. Meine Tasche. Ich habe meine Tasche verloren. Da war mein Ausweis, meine Bahnkarte, meine Bankkarte, mein Geld, mein Haustürschlüsse, einfach alles. Ich muss jetzt gleich aussteigen.“
Der Zug war bereits losgefahren. Karl hatte es gar nicht bemerkt.
Er schaute auf seine Schuhe. „Ja, meine Schuhbänder. Ich weiß nicht. Ich steige bei der nächsten Haltestelle aus. Können Sie mir ein wenig Geld leihen?“
Ich öffnete die Geldtasche und gab ihm einen Hunderter.
„Gleich gebe ich den zurück.“
Er wedelte mit dem Geldschein und steckte ihn in seine Hemdtasche an der Brust.
„Sie sollten bei der Polizei anrufen und ihren Verlust melden“, sagte ich.
Karl schien so verwirrt, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen.
Ich bückte mich, um ihm die Schuhe zu binden. Er ließ es geschehen wie ein Kind.
In Bludenz stürmte er aus dem Zug, blieb auf dem Bahnsteig stehen und winkte mir wie verrückt.
Ich lehnte mich zurück. Was war geschehen, was war mit Karl geschehen? War das seine Art, mir zu zeigen, dass er sich verabschieden wollte. Wohin verabschieden. Ich holte mein Buch von Roberto Bolaño – „Chilenisches Nachtstück“ aus der Mappe, konnte mich aber nicht konzentrieren. Ich las über die Frau des Folterknechts, die rauschende Feste in ihrer Villa feierte, während ihr Gatte Regimekritiker zu Tode folterte. Karl mit Blut auf dem Hemd stand in meinen Gedanken. Ich konnte nicht lesen. Ich konnte nicht denken. Wozu war ich überhaupt in der Lage? Das und Ähnliches ging mir durch den Kopf und so schlief ich schließlich auf ein. Mein Kopf rutschte Richtung Fenster. Ich sah nichts.
Der Schriftsteller Roberto Bolaño war mit fünfzig Jahren gestorben, nachdem er erfolglos und bereits krank Bücher veröffentlicht hatte, dann schrieb er den Roman mit dem Titel „2666“ und wurde zu einer vieldiskutierten Person. Das hatte er sich gewünscht: Erfolg zu haben, damit seine Familie nach seinem Tod in Sicherheit leben konnte.
Monika Helfer
monika.helfer@vn.at
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
Kommentar