Älteste Gaschurnerin hat noch nicht genug von der Welt

Vorarlberg / 29.09.2021 • 11:00 Uhr
Älteste Gaschurnerin hat noch nicht genug von der Welt
Margot Rudigier genießt den schönen Herbsttag in ihrem Garten. VN/kum

Als Kind wäre Margot Rudigier (99) beinahe verhungert. Die widrige Kindheit machte die Partenerin stark.

Gaschurn/Partenen Margot Rudigier sitzt im Garten und lässt sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Ihre Seele jauchzt angesichts des sonnigen und milden Herbsttages. Die 99-Jährige freut sich des Lebens, „weil es mir prächtig geht“. Jeden Tag fragt sich die Partenerin verwundert: „Warum geht es mir so gut?“ Margot mutmaßt, dass der Herrgott sie sehr mögen muss. „Sonst ginge es mir nicht so gut. Sonst hätte er mich schon längst geholt.“

Jeder Tag ein Geschenk

Jeden Tag, der ihr noch geschenkt wird, nimmt sie voller Dankbarkeit an. Die Tage der hochbetagten Frau sind ausgefüllt. Langeweile kennt die Frau, die am 15. April 1922 in Schruns geboren wurde, nicht. Wenn sie nicht gerade mit dem Haushalt beschäftigt ist, strickt Margot Socken, im Jahr rund 50 Paar. Oder sie löst Kreuzworträtsel und liest die Tageszeitung. Im Sommer werkelt sie auch gern im Garten, wo Kartoffeln, Tomaten, Gurken und Salate wachsen. Heute hat Margot nach dem Mittagsschläfchen drei Laibe Brot gebacken. Damit macht sie nicht nur sich selbst eine Freude, sondern auch ihrer Familie, die ihr gut schmeckendes Brot sehr schätzt.

Margot Rudigier mit ihrem jüngsten Sohn Emil.
Margot Rudigier mit ihrem jüngsten Sohn Emil.

Umgekehrt wird auch sie umsorgt und verwöhnt von ihren Lieben. Sohn Dietmar holt sie jeden Tag zum Mittagessen ab, Sohn Emil kommt jeden zweiten Tag auf einen Plausch vorbei und macht mit ihr einmal wöchentlich einen Großeinkauf. „Ich schiebe den Einkaufswagen und Mama sagt, was sie braucht.“ Margot gerät ins Schwärmen, wenn sie auf ihre zwei Söhne zu sprechen kommt. „Meine zwei Kinder schauen gut auf mich. Sie sind mein Ein und Alles.“

Auf ihre „Buben“ hat sie sich immer verlassen können. Als ihr Mann eines Tages von der Arbeit nicht mehr heimkam und man Tage später die Leiche des 51-Jährigen in einem See entdeckte, waren es ihre Söhne, die ihr 1974 die Kraft gaben weiterzumachen. Ihre „Buben“ trösteten sie auch, als ein Jahr später eine Lawine das Haus mitriss, das Margot mit ihrem Mann gebaut hatte. „Diese zwei Schicksalsschläge musste ich verdauen“, sagt Margot, die viele Jahre und gerne als Zimmermädchen gearbeitet hat, mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck.

Die 99-Jährige werkelt gerne im Garten, wo Salate, Tomaten und Gurken gedeihen.
Die 99-Jährige werkelt gerne im Garten, wo Salate, Tomaten und Gurken gedeihen.

Aber das Leben hielt noch mehr bittere Prüfungen für sie bereit – und das bereits in den ersten Jahren ihres Lebens. „Meine zwei Geschwister und ich bekamen nicht genug zu essen. Wir waren unterernährt und gingen oft mit Hunger schlafen“, erinnert sie sich an ihre Kindheit, an die härteste Zeit ihres Lebens. Margot weiß noch, dass ihre Mutter einmal hilfesuchend zum Pfarrer ging und zu ihm sagte: „Ich weiß mir keinen Rat mehr. Ich weiß nicht, was ich auf den Tisch bringen soll?“ Auch die Antwort des Geistlichen ist Margot noch total gegenwärtig. „Er sagte zu Mama: ,Der Herrgott wird schon helfen.“

Regelmäßig Schläge bekommen

Der Hunger war das eine, die Gewalttätigkeit des Vaters das andere. „Mama hat mehr Schläge bekommen als Essen“, fasst Margots Sohn Emil die widrige Kindheit seiner Mutter in einem Satz zusammen. Aber diese machte die Montafonerin widerstandsfähig und genügsam. Ihre heutige Zufriedenheit und Dankbarkeit kommen nicht von ungefähr. Wenn man schlechte Zeiten erlebt hat, schätzt man die guten umso mehr.

Margot sann nie über ihr Alter nach. Nach dem 90. Geburtstag entwickelte die rüstige Frau aber den Ehrgeiz, 100 zu werden. Jetzt fehlen ihr bloß noch ein paar Monate, dann hat sie tatsächlich ein Jahrhundert auf dem Buckel. Die älteste Gaschurnerin lebt nach wie vor leidenschaftlich gern. Margot kann sich sogar vorstellen, 110 zu werden, vorausgesetzt, es geht ihr weiterhin so gut wie jetzt. „Sonst habe ich genug von der Welt.“