Reinhard Haller

Kommentar

Reinhard Haller

Enttäuschung

Vorarlberg / 28.10.2021 • 07:00 Uhr

Kein Gefühl wurde im Zusammenhang mit den zum Rücktritt des damaligen Bundeskanzlers Sebastian Kurz führenden Ereignissen so häufig geäußert wie jenes der Enttäuschung: Enttäuscht geben sich Wähler und Parteifreunde, einstige Bewunderer und Sympathisanten, Politexperten und Journalisten, enttäuscht ist jeder und jede. Selbst diejenigen, die Kurz von Anfang an bekämpft und kein gutes Haar an ihm gelassen haben, behaupten nun, sie seien tief enttäuscht, obwohl sie es immer schon gewusst hätten. Am meisten enttäuscht ist wohl der Exkanzler selbst, wenn er erkennen muss, wie rasch Jubel in Ablehnung umschlägt und wie ehemalige Gefolgsleute und einst wohlmeinende Kommentatoren nun noch Salz in die Wunden des zu Fall Gebrachten streuen.

„Enttäuschung kann es nur geben, wenn zuvor eine Täuschung erfolgt ist.“

Enttäuschung kann es nur geben, wenn zuvor eine Täuschung erfolgt ist. Täuschungen sind bewusste Irreführungen, vorgegaukelte Illusionen und Fiktionen, manchmal nur teilbewusste Falschdarstellungen, nicht selten sogar Selbsttäuschungen. Mit Täuschungen kann man manipulieren, den Blick auf die Wahrheit verstellen und Macht ausüben. Enttäuschungen sind hingegen verspätete Wahrheitsfindungen. Auch wenn sie als schmerzhaft, kränkend und frustrierend erlebt werden, haben sie letztlich einen befreienden Effekt. Wenn Enttäuschungen laut Wissenschaft aus falscher Erwartungshaltung und mangelnder Information resultieren, heißt dies, dass das Bild des jungen Kanzlers für viele zu einseitig positiv, zu idealisiert, mit einem Wort zu wenig menschlich gewesen ist. Andererseits ist es wichtig, in der ersten Phase der Enttäuschung die Emotionen im Griff zu behalten. Auch in der Zeit der allgemeinen Empörung muss man sich der Täuschungsgefahr durch ausgesuchtes, aus dem Zusammenhang gerissenes, unvollständiges Aktenmaterial bewusst sein. In vieljähriger Arbeit bei Gericht habe ich all zu oft erfahren, dass die Wahrheit eine andere sein kann, wenn sich der vollständige Akt, auch die Darstellungen der Beschuldigtenseite, überblicken lässt.

Das Bitterste an Enttäuschungen ist nicht die Erfahrung, dass andere unsere Erwartung nicht erfüllt haben, sondern dass wir uns selbst täuschen ließen und hereingefallen sind. Jede Enttäuschung setzt mindestens zwei Personen voraus, jene des Täuschers und jene des Getäuschten. Letzterer muss sich der Erkenntnis stellen, selbst versagt zu haben, durch unrealistische Erwartungen, falsche Vorstellungen und fehlerhafte Einschätzungen. Und diese Person ist niemand anderer als der Enttäuschte, als ich selbst.

Univ.-Prof. Prim. Dr. Reinhard Haller ist Psychiater, Psychotherapeut und früherer Chefarzt des Krankenhauses Maria Ebene.