Ich bin nicht mehr gefragt
Frauen stehen vor dem verschlossenen Fabriksgebäude.
Wo sie sonst geheftet, genäht, sortiert und verpackt haben, ist Stillstand. Sie wurden nicht informiert. Aus einem Lautsprecher tönt die Nachricht, dass sie nach Hause gehen sollen, sie würden benachrichtigt.
Die Nachricht dann war ein Formular, und auf diesem wurde den Frauen vorgeschlagen, sich beim Arbeitsamt zu melden. Sie könnten Arbeitslosengeld beantragen.
Gleich am nächsten Tag steht die Frau, die ich Angelika nenne, vor dem Schalter und schiebt ihr gelbes Formular unter der Glasscheibe durch. Zuvor war sie viereinhalb Stunden Schlange gestanden, und die Füße tun ihr weh.
Die Dame hinter der Scheibe sagt, sie würde benachrichtigt, wenn eine offene Stelle frei wäre. Was sie kann, wird sie gefragt. Angelika erzählt, sie habe ihr Leben lang genäht, sei vierzig Jahre alt und bereit für alles. Sie sei auf das Geld angewiesen, weil sie noch vier schulpflichtige Kinder habe. Nein, sie habe keinen Mann mehr, er sei gestorben, Betriebsunfall. Er habe bei der Bahn gearbeitet. Sie bekomme Entschädigung, aber die reiche niemals, um ihr tägliches Leben zu bestreiten. Die Dame zuckt mit den Achseln.
Zu Hause wischt Angelika den Boden, rollt den einzigen Teppich zusammen und wirft ihn über das Balkongeländer. Es ist warm, bald wird es kalt sein, und sie wird ihre Heizkosten nicht bezahlen können. Was ich hier tue, könnte ich auch bei Fremden tun, putzen, Putzfrauen muss es geben. Sie sieht auf die Uhr, gleich würden die Kinder aus der Schule kommen und sich wundern, dass ihre Mutter da ist.
„Die Dame hinter der Scheibe sagt, sie würde benachrichtigt, wenn eine offene Stelle frei wäre.“
Wenig befindet sich im Kühlschrank. „Sollen wir von nichts leben?“, fragt der Sohn, der vierzehn ist und mächtig Hunger hat.
Angelika gibt Butter in die Pfanne, Zucker dazu, glasiert die Zwiebeln, schüttet mit Wasser auf, leert Haferflocken in die Brühe, kocht das Ganze auf, rührt kräftig, damit es nicht anbrennt, Salz dazu. Fertig. Ist noch etwas vom Schnittlauch da?
„Stellenanzeigen“, sagt die Siebenjährige. „Du kannst doch nähen, Mama. Reißverschlüsse einnähen. Das wird viel gesucht. Wir hängen ein Schild an die Wohnungstür und fragen herum.“
„Das ist dann Schwarzarbeit“, sagt der Sechzehnjährige, „das wird bestraft.“
„Haben wir nichts mehr in der Reserve?“, fragt die Zehnjährige.
„Reserve darf nicht angerührt werden, jetzt noch nicht“, sagt Angelika. „Die Zuckerdose ist voll Münz, mit der geh in den Supermarkt und kauf Wurst und Käs und frisches Brot.“
„Was ist mit meinem Geburtstag? Können wir nicht die Oma anrufen, damit sie uns aushilft?“
„Aushilft bis wann“, sagt Angelika, „die hat doch nur ihre kleine Rente, die wollen wir ihr lassen.“
Sie läutet bei der Nachbarin und erzählt von ihrem Missgeschick. „Ich bin Näherin, das ist nicht mehr gefragt“, sagt sie. Die Nachbarin rät ihr, beim Sozialamt nachzufragen, Notgeld gebe es in jedem Fall. Aber Angelika will nicht zu Hause sitzen und auf Almosen warten.
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
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