Das bewegte Leben der Annemarie Oellers

Vorarlberg / 30.01.2022 • 16:00 Uhr
Das bewegte Leben der Annemarie Oellers
Annemarie Oellers fühlt sich in ihrem neuen Zuhause in Schruns sehr wohl. Frederick Sams

Annemarie Oellers wanderte aus Liebe aus. Als sie ihren zweiten Ehemann verlor, kehrte sie in ihre Heimat Montafon zurück.

Schruns Fasziniert blickt Annemarie Oellers auf die Vandanser Steinwand, die in goldenes Sonnenlicht getaucht ist. Dann schweift ihr Blick hinüber zur Mittagsspitze. Diesen Berg findet die 81-Jährige so schön, „dass ich ihn jeden Tag umarmen könnte“. Annemarie ist von der Schönheit ihrer Heimat außerordentlich angetan. Vielleicht liegt das daran, dass sie viele Jahre im Ausland lebte und nun – im Alter – nach Österreich zurückgekehrt ist. „Ich fühle mich hier in Schruns wie im siebten Himmel“, sagt die Witwe und wischt sich mit einem Taschentuch über die Augen, die vor Ergriffenheit feucht geworden sind.

Das Leben führte sie als junge Frau aus ihrem Heimatdorf St. Gallenkirch fort. 1961 heiratete die gelernte Hotelfachfrau einen Bartholomäberger und gründete mit ihm eine Familie. Aber das Ehe- und Familienglück währte nicht lange. 1969 verlor die Montafonerin ihren Mann. „Er starb am Silvestertag. Ich ertrug es nicht, dass Raketen abgefeuert wurden. Ich dachte mir: ,Die können das doch nicht tun, wenn mein Franz tot ist.“ Sein Tod stürzte die Mutter von fünf Kindern im Alter zwischen zwei und acht Jahren in eine große Krise. „Ich war ein Vierteljahr nicht zu brauchen. Zum Glück unterstützte mich eine Tante meines verstorbenen Mannes.“ Diese Frau packte sie an der Ehre. „Sie sagte zu mir: ,Jetzt zeigst du den Bergern, dass du was taugst.‘ Ab da erwachten meine Lebensgeister wieder.“

Ein Gast eroberte ihr Herz

Die junge Witwe ging dazu über, Zimmer an Gäste zu vermieten. 1972 fand sich ein Mathematikprofessor aus Deutschland bei ihr ein. „Er war auf der Durchreise und benötigte ein Zimmer für eine Nacht. Auf der Rückreise kam er wieder vorbei und blieb ein paar Tage. Es gefiel ihm bei mir. Als wir gemeinsam eine Bergmesse besuchten, funkte es zwischen uns“, erzählt Annemarie, wie sie Heinz-Josef kennenlernte. Vier Jahre später, 1976, heiratete sie den Deutschen. Nach mehreren Jahren Fernbeziehung zog sie 1982 mit ihrer jüngsten Tochter zu ihrem Mann nach Aachen.

Der Neubeginn in Deutschland war für sie nicht einfach. Denn: „Anfangs hatte ich furchtbares Heimweh.“ Aber dann warf sich Annemarie vertrauensvoll in den Fluss des Lebens, bekam noch ein Kind und blieb an der Seite ihres zweiten Ehemannes bis zu dessen Tod vor zwei Jahren. „Die letzten paar Jahre habe ich Heinz-Josef gepflegt.“ Nach seinem Tod ließ sie Aachen nach 38 Jahren hinter sich und siedelte sich Ende 2020 im Montafon an.

In diesem Tal liegen ihre Wurzeln, die sie nie vergessen hat. Jetzt, im Herbst des Lebens, sinnt sie öfter darüber nach. Vor ihrem geistigen Auge tauchen vermehrt Bilder aus ihrer Kindheit auf. „Ich hatte eine schöne Kindheit. Meine Eltern hatten eine kleine Landwirtschaft. Ich war viel bei den Tieren.“

Bereits als Kind trug Annemarie (l.)  gerne Tracht.
Bereits als Kind trug Annemarie (l.) gerne Tracht.

Als der Krieg ausbrach und ihr „Däta“ eingezogen wurde, durfte sie bei ihrer Mutter Paulina im Ehebett schlafen. Diese hat sie als couragierte Frau in Erinnerung. „Mama hat sich kein Blatt vor den Mund genommen, obwohl es während der NS-Zeit gefährlich war, wenn man seine Meinung sagte.“ Paulina riskierte viel. Im letzten Kriegsjahr versteckte sie Deserteure bei sich, unter anderem ihren Sohn Jakob. „Wenn er nicht in Imst aus dem Zug getürmt wäre, hätten wir ihn vermutlich nie mehr gesehen. Seine Soldatenkameraden, die nach Russland weiterfuhren, kamen nicht mehr zurück.“

Die Fahnenflüchtingen, zuletzt waren es 18, verbargen sich in einem Hohlraum im Stall. Annemarie selbst hat nie einen gesehen. Aber die Männer wagten sich auch nur nachts aus ihrem Versteck heraus. „Dann sind sie wildern gegangen.“ Paulina brachte alle heil durch den Krieg. Auch ihr Ehemann Gebhard überlebte den Krieg. „Däta kam 1947 aus der französischen Kriegsgefangenschaft heim. Er war nur noch Haut und Knochen. Später erzählte er mir, dass die Franzosen aus Gras Suppe gekocht hätten.“

Paulina Netzer war eine starke und stolze Frau, die zu ihrer Meinung stand.
Paulina Netzer war eine starke und stolze Frau, die zu ihrer Meinung stand.