Ein Frauenleben zwischen Gewalt, Krankheit und Liebe

Mindestrentnerin Sherin fiel nicht auf die Butterseite des Lebens. Sie wurde mehrfach zum Opfer von Gewalt.
Schwarzach Materielle Unsicherheit zieht sich wie ein roter Faden durch das Leben von Sherin (Name geändert). „Das Geld war immer knapp. Ich kenne nichts anderes“, sagt die 64-jährige Mindestrentnerin. Sherin wuchs mit acht Geschwistern in Tirol auf. „Wir hatten eine kleine Landwirtschaft und einen großen Garten. Dadurch konnten wir uns selbst versorgen. Es war gerade so viel da, dass alle Münder gestopft werden konnten.“
“Ich hatte keine schöne Kindheit. Mein Vater war Alkoholiker und gewaltttätig.”
Auch sonst lebte sie in Unsicherheit. „Ich hatte keine schöne Kindheit. Mein Vater war Alkoholiker und gewalttätig.“ Sherin und ihre Geschwister versteckten sich vor ihrem Papa, weil sie wussten, dass er jederzeit explodieren konnte. „Dann schlug er zu, mit allem, was er gerade in die Hände bekam.“ Auch seine Ehefrau wurde zu seinem Opfer.
Als Sherin 14 Jahre alt war, zog ihre Mama mit ihr und ihren Geschwistern nach Vorarlberg. Die Mutter hatte die Kraft und den Mut aufgebracht, ihren brutalen Ehemann zu verlassen. Sherin wäre gerne Handarbeitslehrerin geworden. „Geplant war, dass ich in Tirol eine Schule besuche. Aber aus Angst vor meinem Vater habe ich das bleiben lassen.“ Der Teenager ließ sich – mit wenig Begeisterung – zur Textilkauffrau ausbilden. Danach war die junge Frau einige Jahre in einem Spital tätig. „Ich habe Instrumente sterilisiert.“ Später arbeitete sie in einer Zahnfabrik.
Mit 21 ließ sie sich auf eine kurze Ehe ein. „Es war eine Zweckgemeinschaft. Mein Ehemann hatte Schulden. Er gab mir kein Haushaltsgeld.“ Liebe hatte Sherin bis dahin nur von ihrer Mutter erfahren. Gewalt spielte in ihrem Leben eine größere Rolle. Als 13-Jährige wurde Sherin von einem Menschen in ihrem Umfeld vergewaltigt. Mit 16 wurde sie abermals mit Gewalt zum Geschlechtsverkehr gezwungen, mit 19 brachte ein Bekannter sie nicht heim, sondern fuhr mit ihr in den Wald und missbrauchte sie. „Ich glaube, dass ich diese Erfahrungen anzog, weil ich unterdrückte Panik in mir hatte.“
Ein Kind zum Liebhaben
Mit 25 ließ sie sich wieder auf einen Mann ein, weil sie unbedingt ein Kind wollte. „Ich wollte etwas, das man liebhaben kann, etwas, das mir gehört.“ Mit dem Vater ihres Sohnes blieb sie 16 Jahre lang zusammen. „Er gab sein Geld für Autos und Eisenbahnen aus. Ich musste um Haushaltsgeld betteln. Geschenke habe ich von ihm keine bekommen, weder zum Geburtstag noch zu Weihnachten.“
Als ihr Sohn fünf Jahre alt war, begann Sherin halbtägig als Raumpflegerin zu arbeiten. Als solche war sie elf Jahre tätig – bis sie krank wurde. „Ich bekam kaum noch Luft. Man entdeckte, dass ich an allergischem Asthma leide.“ Zu dieser Zeit begannen auch die Rückenschmerzen, unter welchen sie zehn Jahre litt und die Panikattacken, welche sie zwei Jahre lang peinigten. Außerdem quälten sie Zahnschmerzen. „Innerhalb von vier Jahren musste ich mir alle Zähne ziehen lassen.“ Sherin, die nach der Trennung in eine 52 Quadratmeter große Stadtwohnung gezogen war, konnte aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeiten. „Das traf mich schwer. Ich haderte mit meinem Schicksal und fragte mich, für was das alles gut ist.“ Nachsatz: „Wenn mich mein Sohn zu dieser Zeit nicht finanziell unterstützt hätte, hätte es düster ausgesehen.“
Traumatisiert
Damals begann die traumatisierte Frau ihre Vergangenheit aufzuarbeiten. „Ich habe Familienaufstellungen und Rückführungen gemacht und an therapeutischen Gruppengesprächen teilgenommen.“ Sie entdeckte ihr Interesse für Naturheilkunde, Heilmassage und energetische Heilung, was darin gipfelte, dass sie sich zur Energetikerin ausbilden ließ. „Ich kann durch das, was ich erlebt habe, anderen Menschen helfen.“ Nach einer Not-Operation an der Galle vor zehn Jahren beantragte Sherin Invaliden-Pension. Seither lebt sie von einer kleinen Rente. „Am Ende des Monats ist alles aufgebraucht. Ansparen kann ich keinen Cent.“
Sherin könnte verbittert sein, ist es aber nicht, im Gegenteil, die Tür zu ihrem Herzen steht weit offen. Deshalb konnte auch noch einmal ein Mann in ihr Leben treten. Jakob wurde zur Liebe ihres Lebens. „Mit ihm erlebte ich die schönste Zeit meines Lebens.“ Jakob tat etwas, was sie bisher nicht gekannt hatte. Er verwöhnte sie. „Er war liebevoll und drückte mir manchmal Geld in die Hand mit den Worten: ,Kauf dir was Schönes‘“. Am Ammersee in Bayern erlebte das Paar glückliche Stunden. Sherin träumt davon, noch einmal an diesen Ort zu reisen. „Aber das kann ich mir leider nicht leisten.“