Jürgen Weiss

Kommentar

Jürgen Weiss

Demokratie in Gefahr

Vorarlberg / 15.03.2022 • 09:00 Uhr

Unter den wirren Gründen, die Putin für seinen brutalen Überfall auf die Ukraine genannt hatte, fehlt einer: Seine Angst vor der demokratischen Weiterentwicklung seines Nachbarlandes und einem Überschwappen der Freiheitsbewegung.

Dass Staatspräsidenten abgewählt werden, ist in Putins Weltbild eines Zaren auf Lebenszeit natürlich nicht vorgesehen. Damit die Bevölkerung seines Nachbarlandes Belarus gar nicht erst auf solche Gedanken kommt, unterstützt er den dortigen Präsidenten Lukaschenko, die Proteste gegen Wahlbetrug und Unterdrückung mit harter Hand und vollen Gefängnissen niederzudrücken. Auf friedlichem Wege mit Wahlen einen Machtwechsel herbeiführen zu können, ist ein Wesensmerkmal von Demokratie und daher der natürliche Feind eines Alleinherrschers.

„Es gibt weltweit mehr autokratische als demokratische Staaten.“

Der amerikanische Politologe Francis Fukujama vertrat nach dem Zusammenbruch der UdSSR die These, dass sich Demokratie letztlich deshalb durchsetze, weil sie das menschliche Bedürfnis nach Anerkennung am besten befriedige, Mit dem Sieg dieses Modells entfalle ein wichtiges Antriebsmoment der Geschichte, sie nähere sich ihrem Ende. Heute wissen wir besser als je zuvor, dass das eine gewaltige Fehleinschätzung war. Die deutsche Bertelsmann-Stiftung hat kürzlich eine Studie veröffentlicht, dass die Demokratie weltweit an Boden verliere.

Erstmals seit 2004 gebe es weltweit mehr autokratische als demokratische Staaten. Eine schleichende Autokratisierung zeichne sich schon länger ab: In den vergangenen zehn Jahren habe nahezu jede fünfte Demokratie an Qualität eingebüßt, darunter regional bedeutsame und einst stabile Demokratien. Ob die Autoren der Studie dabei auch an Österreich unter dem früheren Bundeskanzler Kurz gedacht haben, ist nicht bekannt. An ersten Versuchten, das Parlament nicht mehr so richtig ernst zu nehmen und die öffentliche Meinung zu lenken (Message Control) hat es bekanntlich nicht gemangelt. In vielen Autokratien haben Unterdrückung, Machtmissbrauch und die Einschränkung von Meinungs- und Versammlungsfreiheit weiter zugenommen. Einen Lichtblick biete zivilgesellschaftliches Engagement, das sich vielerorts gegen den Abbau demokratischer Standards und wachsende Ungleichheit richte.

P.S. Kürzlich wurde ich auf die dem 1934 unter Bundeskanzler Dollfuss hingerichteten Arbeiterführer gewidmete Koloman Wallisch-Sonate von Bertolt Brecht aufmerksam, in der dieser folgende Mahnung festhält: „Nicht einmal den Kampf vermeidet, wer den Kampf vermeiden will, denn: Es wird kämpfen für die Sache des Feindes, wer für seine Sache nicht gekämpft hat.“ Das könnte ein ukrainischer Dramatiker von heute geschrieben haben.

Jürgen Weiss vertrat das Land als Mitglied des Bundesrates zwanzig Jahre lang in Wien und gehörte von 1991 bis 1994 der Bundesregierung an.