Die Psyche der Autokraten
Seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine wird viel über die Psyche des Mannes spekuliert, der dieses Grauen zu verantworten hat. Alle Welt fragt sich, was im Kopf des Präsidenten vorgehe, ob er psychisch krank sei und welche gestörten Motive ihn treiben. Selbst die als höchst seriös geltende Neue Zürcher Zeitung tituliert: “Ist Putin verrückt geworden?“ Die Antworten lesen sich wie ein psychiatrisches Diagnosebuch. Sie reichen von „schrecklich normal“ und „eiskalter Psychopathie“ über extremes „Social Distancing“ und „Wesensänderung infolge Krebs“ bis zu „Zarenwahn“ und „Brain Fog“ – auf Deutsch „Gehirnnebel“, also Verrücktheit.
„Umgeben nur noch von Jubelknechten schuf er ein Klima, in dem seine Meinung sakrosankt war und jegliches Korrektiv gefehlt hat.“
Niemand kann in solchen Fällen Ferndiagnosen stellen, auch nicht Kriminalpsychologen. Wohl aber ist es zulässig, Vergleiche mit anderen autokratischen Kriegstreibern, deren Psyche oft gut erforscht ist, anzustellen. In aller Regel waren diese nicht geisteskrank, aber in ihrer persönlichen Entwicklung zunehmend verändert. Ein solcher Wandel von einem zuvor zugänglichen und eher berechenbaren Regenten zu einem abgehobenen Machtmenschen wird von allen Kennern des Präsidenten beschrieben. Der Wladimir Putin von heute ist ein anderer als jener, mit dem früher viele erfahrene Polit- und Wirtschaftspersönlichkeiten so gerne kooperiert haben. Offensichtlich hat er sich im Lauf einer langen Regierungszeit, bestärkt durch ständige Wahlerfolge, mehr und mehr auf sich und seine Großartigkeit konzentriert. In steigendem Misstrauen auf die Außenwelt hat er andere Meinungen als feindselig erlebt, auch wohlmeinende Kritiker radikal entfernt und jede Empathie ausgeblendet. Umgeben nur noch von Jubelknechten schuf er ein Klima, in dem seine Meinung sakrosankt war und jegliches Korrektiv gefehlt hat. Für gewöhnliche Politik hat sich der Alleinherrscher kaum noch interessiert, sondern alles dem selbst erteilten „historischen Auftrag“ untergeordnet. So war der narzisstische Höhenrausch nicht mehr zu stoppen. Der Autokrat lässt sich von niemandem mehr erreichen. Das entrückt ihn – und macht ihn gefährlich.
Der beste Schutz vor solch verhängnisvollen Entwicklungen sind nicht Therapiemaßnahmen, sondern die Mechanismen der Demokratie: Bestätigung durch nicht manipulierbare Wahlen, Kontrolle durch eine starke Opposition, transparenzschaffende Analysen durch unabhängige Medien und Begrenzung der Amtszeit verhindern eine gefährliche narzisstische Entwicklung. Das Beispiel der USA in der Trump-Ära hat dies eindrucksvoll gezeigt.
Univ.-Prof. Prim. Dr. Reinhard Haller ist Psychiater, Psychotherapeut
und früherer Chefarzt des Krankenhauses Maria Ebene.
Kommentar