Sein Trauma

Vorarlberg / 09.06.2022 • 07:29 Uhr
Sein Trauma

Frau Ammann hat im Netz nach Menschen gesucht, die vielleicht wissen, wie dieser Putin tickt, hängt doch eine Menge der neuen Welt-Probleme auch von seinen Taten ab – Inflation, Energiekrise, zerschlagene Lieferketten, Kollaps des ukrainischen Getreideexports, Blockade der Schwarzmeerhäfen usw. Was ein einzelner Autokrat so alles anrichten kann.

Frau Ammann hat tatsächlich einen gefunden, der diesen Scharlatan schon durchschaut hatte, als der Deutsche Bundestag ihn vor 21 Jahren noch mit Standing Ovations feierte, als er „stabilen Frieden auf dem Kontinent als sein Hauptziel“ verkündete, ja davon sprach, dass es der Innenpolitik Russlands um die „Gewährleistung der demokratischen Rechte und der Freiheit“ ginge . . .

„Dann hat er sich Dauerbrandöfen besorgt und die Akten verbrannt. Er hielt die Wende für einen ,faschistischen Spuk‘.“

Werner Schulz heißt der Mann, der ihm nie auf den Leim gegangen war, ein ehemaliger DDR-Bürgerrechtler, der dem „Wandel durch Handel“ und Putins Umarmungen von Anfang an misstraut hatte.

Schlüsselerlebnis

Ein markanter Moment hatte Schulz früh die Augen geöffnet. Seine Freunde vom „Neuen Forum“ hatten damals am 6. Dezember 1989 das Stasigebäude in Dresden besetzt, um die Stasi-Akten zu sichern. Als sie dasselbe auch mit den KGB-Akten vorhatten“ trat ihnen der Oberstleutnant Putin mit gezogener Pistole entgegen und sagte, er sei Offizier der roten Armee und werde dieses Objekt verteidigen – dann hat er sich Dauerbrandöfen besorgt und die Akten verbrannt. Er hielt die Wende für einen „faschistischen Spuk.“ Für Schulz war dieser Auftritt ein Schlüsselerlebnis: „Putins Trauma war, dass ein autoritäres System durch Straßenproteste, ohne einen einzigen Schuss abzufeuern, gestürzt werden konnte.“ Offensichtlich ein Schock, den er nie verwunden hat und der die Zehntausenden in seinen Gefängnissen erklärt, die mutig um ihre Rechte kämpfen wollten.
Im Laufe der Jahrzehnte hat er sich so mit Versatzstücken aus Stalinismus, Turbokapitalismus und offenem Gangstertum ein System gebastelt, das ihn (vermeintlich) unangreifbar macht.

Fifty/Fifty

Geflohene, ehemalige Oligarchen aus seinem innersten Kreis, erklären heute ganz offen und im Wissen, dass sie sich damit ins Fadenkreuz der russischen Geheimdienste stellen, wie dieses System funktioniert. Ganz einfach, sagt William Browder, einer der einst mächtigsten Investoren in Putins Reich: „ER besteht auf Fifty/Fifty“, lässt also seine Oligarchen und Investoren unbehelligt reich werden, solange er jederzeit auf 50 % ihres Vermögens Zugriff hat. Wer den Deal nicht akzeptiert, kommt ins Gefängnis oder gleich auf die Todesliste.

Man möchte nicht in Scholzens oder Macrons Haut stecken, sinniert Frau Ammann – die müssen dem Mafioso nämlich wieder in die Augen sehen können, sollte es doch noch zu Verhandlungen kommen, am langen Tisch . . .

Reinhold Bilgeri

reinhold.bilgeri@vn.at

Reinhold Bilgeri ist Musiker, Schriftsteller und Filmemacher, er lebt als freischaffender Künstler in Lochau.