Monika Helfer

Kommentar

Monika Helfer

Verzweiflung

Vorarlberg / 21.06.2022 • 10:15 Uhr

Eine Mutter, die ihren Sohn mit aller Liebe und allein aufgezogen hatte, rief ihre Schwester an und bat um eine Unterredung. Lange Zeit hatte sie sich überlegt, wem sie ihre Verzweiflung mitteilen könnte. Sie wollte nicht als Versagerin dastehen, gerade aber bei ihrem Problem fühlte sie sich als solche. Ihr Sohn, der lange Zeit ihr braver Liebling gewesen war, hatte eine Lehre in einer Autowerkstatt begonnen, er hasste seinen Chef, ein Oberarschloch, wie er sagte, auch die andren Mitarbeiter seien Arschlöcher. Ein paar Mal wollte er schon alles hinschmeißen. Keinem könne man es recht machen. Der Chef hatte sie angerufen und gefragt, was mit ihrem Sohn los sei, er käme seit einer Woche nicht zur Arbeit. Als die Mutter nachfragte, sagte er, er gehe da nicht mehr hin, dort würde er nur gedemütigt.

Die Mutter redete auf ihn ein, aber der Sohn weigerte sich, noch einmal in die Werkstatt zu gehen.

Die Mutter redete auf ihn ein, aber der Sohn weigerte sich, noch einmal in die Werkstatt zu gehen. Ihm wurde gekündigt, er lag bis Mittag im Bett, rauchte, wusch sich nicht mehr, und die Mutter versuchte es mit Gutmütigkeit und Versprechen – er bekomme ein Mofa, wenn er wieder arbeite. Alles nützte nichts. Sie bemerkte, dass er nach Mitternacht das Haus verließ und erst in den Morgenstunden wieder heimkam. Er sagte nicht, wo er gewesen war. Das ging schon eine Weile so, und die Mutter beschloss, ihm zu folgen. Sie zog einen schwarzen Kapuzenpullover ihres Sohnes an und schlich ihm nach. Er ging nicht weit. An einem Parkplatz blieb er stehen. Er näherte sich einem Auto, legte den Rucksack ab und nahm ein Werkzeug heraus. Die Mutter stand hinter den Büschen. Ihr Sohn bückte sich zu einem Rad und drehte mit einem großen Schlüssel an den Schrauben. Er lockerte sie. Das machte er bei zwei Rädern. Dann ging er zum nächsten Auto. Die Mutter wusste nicht, sollte sie ihn jetzt gleich zur Rede stellen oder erst zu Hause. Sie tat beides nicht. Sie hatte Angst, ihn ganz zu verlieren. Und er hat doch nur mich. Sein Vater kümmerte sich nicht, er hatte keine Freunde. Als er nächste Nacht wieder unterwegs war, schwieg sie abermals. Dann hörte sie in den Regionalnachrichten einen Aufruf: Es wurde nach einem Mann gefahndet, der bei Autos auf Parkplätzen Schrauben lockere. Ein paar Mal schon waren bei der Polizei Anzeigen eingegangen. Die Autofahrer hörten beim Fahren ein schlagendes Geräusch, sie fuhren an den Rand und bemerkten die lockeren Schrauben. Bei einem Auto wurden lockere Schrauben auf allen vier Rädern festgestellt. Das alles in dem nämlichen Umfeld. Hinweise wurden erbeten, und die Frau überlegte sich, zur Polizei zu gehen, verwarf es aber wieder. Sie redete vorsichtig mit ihrem Sohn, erzählte ihm von dem Aufruf, der tat, als hätte er keine Ahnung. Sie beschwor ihn, damit aufzuhören, dann wäre alles wieder gut. Sie stellte sich die schlimmsten Unfälle vor, verletzte Kinder, verletzte Väter, tote Mütter.

Und dann traf sie sich mit ihrer Schwester. Die begleitete sie zur Polizei, und knapp davor nahm sie beide Hände ihrer Schwester und sagte: „Ich kann meinen Liebling nicht verraten. Ich kann ihn nicht ausliefern, er ist alles, was ich habe.“

Monika Helfer

monika.helfer@vn.at

Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.