Das Unbehagen
Die Frau aus dem 4. Stock, Vicky, hatte sich jahrelang ein Kind gewünscht. Der Arzt sagte, es sei nicht möglich bei ihr. Sie konnte das nicht akzeptieren und suchte sich einen Kindsvater. Sie wurde schwanger, verschickte Ultraschall-Bilder von dem Ungeborenen. Überall trug sie diesen Beweis mit sich, jedem, den sie kannte, zeigte sie ihn. Dieser Überschwang an Gefühl entsprach ihr nicht. Die Adressanten wunderten sich, war doch Vicki die Frau hinter der Frau. Auch die Frau, die unter ihr wohnte, Karin, bekam ein Bild von dem Embryo. Sieben Monate trug Vicki dieses Wunder in sich, dann wurde es tot geboren. Eigentlich hätte sie aus Kummer sterben müssen. Sie wurde seltsam, und der Vater des toten Kindes hielt es nicht mehr bei ihr aus. Er war nur mehr ein Vorwurf.
Karin, die Frau, die unter ihr wohnte, erzählte mir die traurige Geschichte. Sie war unkompliziert, und sie bezeichnete mich als ihre Freundin, weil ich einmal eine Geschichte über sie geschrieben hatte. Sie wollte mit der Frau vom vierten Stock Kontakt aufnehmen und sie trösten. Aber die beiden waren zu verschieden, meine selbsternannte Freundin war gesellig und liebte starke Männer.
Nachdem Vicki vor Kummer fast gestorben wäre, erzählte ihr Karin, sie sei schwanger, wolle das Kind aber nicht, sie wisse nämlich nicht genau, wer der Vater sei. Sie wolle das Kind abtreiben. Als Vicki das hörte, sperrte sie sich in der Wohnung ein, randalierte, in dem sie mit dem Besen bis zur Erschöpfung auf den Boden schlug.
Karin bekam ihr Baby nicht. Weiter besuchten sie Männer, weil sie so unkompliziert war.
Karin bekam ihr Baby nicht. Weiter besuchten sie Männer, weil sie so unkompliziert war.
Vicki übte von nun gegen Karin Terror aus. Sie stach die Reifen ihres Autos, beschmierte die Scheiben mit „Mörderin“. Es nahm kein Ende. Einmal ging Karin gerade aus ihrer Wohnungstür, da warf ihr Vicki einen Stein vor die Füße. Sie hatte ihn extra aus dem Wald ins Tal gerollt, ein Taxi gerufen und sich nach Hause befördern lassen. Für ein Extrageld hievte der Taxifahrer den Stein in den Lift. Um Haaresbreite wäre Karin getroffen worden.
„Jetzt gehst du aber zu weit, Vicki!“, sagte Karin. „Wenn du nicht aufhörst, mich zu belästigen, zeige ich dich an.“
„Darauf warte ich nur“, sagte Vicky gehässig. „Dann habe ich endlich Gelegenheit, alles, was ich über dich weiß, preiszugeben.“
Als mir Karin kürzlich begegnete, sagte sie, Vicki sei in der Psychiatrie, und ob ich finde, dass sie sich schuldig fühlen sollte, wegen des Irrsinns, und weil sie ihr Kind abgetrieben habe. „Ich bin niemandem Rechenschaft schuldig, das sagst du doch auch? Willst du nicht wieder etwas über mich schreiben? Ich könnte dich übers Wochenende besuchen, und du hörst mir zu.“
Ich sagte ja, obwohl ich nein dachte.
Monika Helfer
monika.helfer@vn.at
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
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