Monika Helfer

Kommentar

Monika Helfer

Fremd

Vorarlberg / 07.09.2022 • 11:00 Uhr

Ein alter Mann, der lange Zeit in Burma gelebt hatte, winkte mich zu sich und sagte, ich solle mich setzen, er wolle mir eine Geschichte erzählen. Er saß unter einer alten Tanne, und Nadeln fielen auf ihn nieder.

Ein zweites Kind gebar sie. Es war ein Junge. Er war wie ich, kräftig und sentimental. Mit jedem Jahr glich er mir mehr.

„Sie war klein und süß wie Zucker, aber sie liebte mich nicht. Wenn ich ehrlich sein soll, liebte ich sie auch nicht, ich wollte sie nur besitzen wie die Schatulle aus Plattgold. Sie zog bei mir ein, und ich musste feststellen, dass sie alles wunderbar konnte. Sie kochte wie ein begabter Koch. Sie bügelte meine Anzüge und parfümierte sie, sie schlug die Augen nieder, wenn ich sie lobte. Sie schlief auf dem Boden vor meinem Bett, und als ich ihr sagte, dass ich das nicht aushalte, kroch sie zu mir. Sie war ein wildes Kätzchen und streichelte mich, biss mich, und legte sich wieder auf den Boden. Ich hob sie hoch, sie war ja eine Flaumfeder, und sie legte sich auf mich. Ich dämmerte ein, weil sie so leicht war, als wäre sie fort. Sie schenkte mir ein Kind. Verzeihen Sie diese geschmacklose Formulierung. Sie trug mein Kind aus, und es war schön wie sie. Es war ein Mädchen, und wenn wir am Esstisch saßen und ich zusah, wie sie es fütterte, liefen mir Tränen aus den Augen. Ein zweites Kind gebar sie. Es war ein Junge. Er war wie ich, kräftig und sentimental. Mit jedem Jahr glich er mir mehr. Obwohl er zwei Jahre jünger war als seine Schwester, musste sie ihm gehorchen und bald schon auch seine Mutter. Sie waren für ihn Sklavinnen. Aber so will ich nicht sein. Ich wollte sie zwar nie heiraten, meine Schöne, weil es mein Wunsch war, wieder in mein Heimatland zu ziehen, wenn ich alt bin. Ich wollte auf dem Friedhof begraben werden, in dem meine Eltern auf mich warten. Ich bin ein Europäer und weiß nichts. Ich schäme mich für meine Art. Gern wollte ich sanft werden wie mein Mädchen, das große und das kleine. Aber ich war wie mein Sohn. Wir beherrschten die beiden. Eines Morgens sah ich durch das Fenster die Frauen, die junge und die alte. Sie packten einen Wagen. Das Mädchen setzte sich auf einen Stoffhaufen. Gewiss waren auch meine Anzüge darunter, weil ich sie am nächsten Tag suchte und nicht fand. Die Mutter schob den Karren. Sie sah zu mir hoch und winkte. Der Sohn blieb bei mir. Er wollte mir nicht gehorchen und bald war er mein Herrscher.“

„Sie erzählen“, sagte ich „wie aus einem Märchen. Wie viel Funken Wahrheit ist darin enthalten?“
„So viel“, sagte der Mann unter der Tanne, „dass es ein großes Feuer gäbe.“

Monika Helfer

monika.helfer@vn.at

Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.