Monika Helfer

Kommentar

Monika Helfer

Der Mittagstisch

Vorarlberg / 19.04.2023 • 10:00 Uhr

Jeder Tag begann mit einer Prüfung, die der Sohn nicht bestehen würde. Er wusste es, und trotzdem war es ihm nicht gestattet, sich davor zu drücken. Der Tisch war gedeckt, weißes gestärktes Tischtuch, Servietten, Suppenteller, Besteck. Seine drei Schwestern saßen bereits auf ihren Stühlen, die Mutter hantierte noch in der Küche. Auf den Vater wurde gewartet. Der Sohn starrte geradeaus, bemüht, ein neutrales Gesicht zu machen. Seine Schwestern wussten, dass sie kein Problem für den Vater waren, ihm war es gleichgültig, wohin sie sich bewegten, jetzt und in der Zukunft, nur auf seinem fünfzehnjährigen Sohn lastete die gesamte Erziehung. Der Sohn konnte nur alles falsch machen. Mittlerweile bewegte er sich automatisch, war nicht mehr so penibel darauf bedacht, alles richtig zu machen. Er war die funktionierende Maschine. Die Mutter schöpfte die Suppe. Der Vater schlürfte, sagte aber zu seinem Sohn, er solle es nicht wagen zu schlürfen. Er bröselte mit dem Brot. Die Mutter hatte es sich längst abgewöhnt, Kommentare abzugeben. Es war einfach so. Ihr Sohn gehörte nicht zu ihrem Aufgabenbereich. Sie nahm die Suppenteller weg, tischte Fleisch, Gemüse und Salat auf, und der Vater aß wieder so ungehörig, wie er es seinem Sohn vorhielt. Die Mädchen kauten gelangweilt. Der Vater stand auf, schlug mit der Faust auf den Tisch und schrie, dass das Maß jetzt voll sei. Sein Sohn solle verschwinden. Er hatte nichts getan, sein Fleisch sauber geschnitten, lautlos geschluckt.

„Die Mutter schöpfte die Suppe. Der Vater schlürfte, sagte aber zu seinem Sohn, er solle es nicht wagen zu schlürfen. “

Der Sohn erhob sich, sein Gesicht zitterte, er wusste, sein Vater würde nicht handgreiflich werden, das war er nie geworden, und fast wünschte sich der Sohn, dass er es würde. Er ging rückwärts, der Stuhl kippte, er rannte zur Veranda hinaus, noch mit Hausschuhen, rannte durch die Nachbarswiese, hinauf auf den Hügel, hinunter zur Straße, hinein in ein Feld, in dem Kühe weideten. Er ließ sich ins Gras fallen.

Zuhause ging der Vater aus dem Esszimmer. Die Mutter und die Mädchen räumten den Tisch ab, eine kehrte unter dem Sitzplatz des Vaters, dort lag der meiste Unrat. Der Vater war in seinem Arbeitszimmer verschwunden. Er nahm ein Blatt Papier und begann einen Brief an seinen Sohn zu schreiben: „Lieber Sohn, nichts mehr liebe ich auf der Welt als Dich. Sei Dir gewiss, mein Sohn, meine Erziehung soll Dir zu einem guten Leben verhelfen. Du musst mir vertrauen. Magst Du es auch nicht verstehen, es ist zu Deinem Nutzen …“
Er griff um sich und Gegenstände fielen zu Boden. Er erschrak. Könnte es sein, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Dass er seine Bewegungen nicht mehr kontrollieren konnte?

Wenn dem so wäre, müsste er sich aus dem Weg schaffen. Das wäre dann alles gewesen. Ein Segen für die Familie.

Monika Helfer

monika.helfer@vn.at

Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.