Raserei
Der Zornige hatte schon im Mutterbauch getobt und bei der Mutter heftige Unruhe hinterlassen, so dass sie zum Arzt sagte, etwas könne mit dem Kind nicht stimmen. Sie werde verrückt, es sei als wäre ein Tier in ihrem Bauch, das nie zur Ruhe komme. „Schauen Sie nur, wie sich mein Bauch bewegt, wie er sich verformt. Das kann nicht normal sein.“ Ein Ultraschall zeigte ein wolkiges Bild, darin sah der Arzt keine Anzeichen zur Beunruhigung. Das Kind kam als gesundes Baby zur Welt.
Aber es konnte nicht stillhalten, bewegte sich, wo immer es lag. Seine Fäustchen blieben nicht ruhig, die Beinchen schlugen aus, in seine Stirn gruben sich Zornesfalten. Die Mutter nahm es auf den Arm und wiegte es. Der Vater nahm es auf den Arm und sang ihm vor. Der Kleine schrie nicht, aber sogar wenn er schlief, tobte sein Körperchen. Manchmal stöhnte er und das klang wie das Stöhnen eines Erwachsenen. Der Arzt fand keinen Schaden an ihm. „Es gibt eben solche und solche“, sagte er
Die Mutter räumte ihr Bügelzimmer leer, sicherte alle Steckdosen und sperrte ihren Sohn ein.
Lange lernte der Bub nicht sprechen und als er erste Laute von sich gab, wurde interpretiert: Die Mutter hörte Mama, der Vater hörte Papa. Mit vier Jahren lernte er ganze Sätze sprechen, sie wurden in großer Unruhe zustande gebracht.
Die Mutter räumte ihr Bügelzimmer leer, sicherte alle Steckdosen und sperrte ihren Sohn ein. Vor die Tür stellte sie den Recorder und spielte ihm laut Mozarts Requiem vor. Sie ließ ihn erst frei, wenn sie die Autotür ihres Mannes zuschlagen hörte.
Der Sohn hatte sich auf den Kopf fallen lassen, er blutete an der Stirn und sein Gesicht war zerkratzt. Der Vater nahm ihn auf den Arm, und der Kleine riss ihn an den Haaren und trat ihn in den Bauch.
In ein Heim wollten sie ihren Sohn nicht stecken. Es gab ja Medikamente. In der Schule konnte er wieder nicht still sitzen, und die Mutter, die einmal Lehrerin gewesen war, unterrichtete ihn zu Hause. Wenn er tobte, schimpfte sie ihn Zornteufel.
Der Vater fragte da und dort, es gab so viele Spezialisten, so viele hatten seinen Sohn schon überprüft. Jede Möglichkeit nahm er wahr. Seine Frau gab die Erziehung auf. Sie zog sich in den Garten zurück und pflanzte wie verrückt.
Ein Bekannter, den der Vater in einer Bar kennengelernt hatte, wusste Rat. Man wollte ihm glauben. Alles musste ausprobiert werden. Er fuhr mit seinem Sohn nach Brasilien, dort hatte der Bekannte einen Bekannten, einen Schamanen, der könne Tiere aus Menschen entfernen.
Der Vater zahlte eine Menge Dollar und ließ schlechten Gewissens seinen Sohn bei dem Zauberer. Das müsse so sein. Der nahm ihn mit in seine Hütte im Regenwald, dort vergrub er ihn und gab ihm zwei Tage nichts zu essen. Der Bub brüllte, wie man noch nie ein Tier hat brüllen hören. Der Zauberer gab ihm Salzwasser zu trinken und grub ihn aus. Er wusch ihn mit einem Sud aus Kräutern, legte ihn auf ein großes Tuch und schleifte ihn in den Wald.
Es wurde erzählt, dass der Sohn nach sieben Tagen wieder zum Schamanen zurückkehrte und ihn mit ruhiger Stimme bat, er möge ihn aufs Neue eingraben, damit er endlich gesund werde.
Monika Helfer
monika.helfer@vn.at
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
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