Reinhard Haller

Kommentar

Reinhard Haller

Feindbild Politiker

Vorarlberg / 05.07.2023 • 16:30 Uhr

Politiker sind abgehoben, machtbesessen, unsozial und dumm. Sie sind nur auf den eigenen Vorteil bedacht, haben stets Böses im Sinn, treffen ausschließlich falsche Entscheidungen, regieren gegen das Volk und verdienen zu viel. Regelmäßig verschlafen sie neue Entwicklungen, verhindern jeden Fortschritt und können die verheerenden Folgen ihrer Untaten nicht einmal erahnen. Und überhaupt, dies muss zur Zeit der Zeugnisverteilung mit erhobenem Zeigefinger einmal gesagt sein, sind sie faul und haben nie ihre Hausaufgaben gemacht.
So oder ähnlich lautet das Urteil über die Politik in der gesellschaftlichen Diskussion, im Großteil der medialen Berichterstattung und paradoxerweise auch in der Selbstdarstellung. Jüngst hat es etwa der freiheitliche Generalsekretär auf den Punkt gebracht, indem er seine Kollegenschaft in der Regierung als „korrupt, brandgefährlich, hasszerfressen und größenwahnsinnig“ bezeichnete. Für einen Kriminalpsychologen ist damit das idealtypisch-negative Profil einer psychisch extrem gestörten, delinquenten, durch und durch bösen, ja gemeingefährlichen Persönlichkeit treffend beschrieben.

„Weshalb ist Entwerten so verlockend, Beschämen so beliebt und Beschuldigen so lustvoll?“

Weshalb ist Entwerten so verlockend, Beschämen so beliebt und Beschuldigen so lustvoll? Weshalb betonen wir, wenn es um destruktives Kritisieren geht, dass wir uns das Wort nicht verbieten lassen oder dies Pflicht der Opposition sei? Psychologisch geht es dabei wohl um mehr als mangelnde Differenziertheit und fehlende Selbstreflexion. Es hat viel mit dem zu tun, was die Psychoanalyse als Projektion bezeichnet: Ungute innere Gefühle wie jene der eigenen Unzulänglichkeit, des Selbstzweifels oder der Schuld werden von sich selbst abgezogen und in andere hinein projiziert. Dies ist nicht nur bequemer als das Erarbeiten konstruktiver Lösungen, sondern hat auch einen befreienden Effekt.

Nun heißt das alles keinesfalls, dass die Politik nicht ständig hinterfragt werden soll, es nichts zu kritisieren gäbe. Ganz im Gegenteil: Mehr denn je brauchen wir dort einen Wettkampf der besseren Ideen. Wenn wir aber die Politiker nur verdammen, werden wir weder eine Versachlichung der politischen Diskussion noch ein konstruktiveres gesellschaftliches Klima erreichen. Vielmehr wird die so viel beklagte Politverdrossenheit zunehmen und immer mehr qualifizierte und idealistische junge Menschen vom politischen Engagement abhalten. Zwangsläufig wird dies zu einem Niveauverlust führen. Aber dann haben wir ja umso mehr Anlass zu entwerten, beschämen und beschuldigen.

Univ.-Prof. Prim. Dr. Reinhard Haller ist Psychiater, Psychotherapeut

und früherer Chefarzt des Krankenhauses Maria Ebene.