Die Existenznot greift um sich
Immer mehr Menschen suchen Hilfe bei der Schuldenberatung.
Bregenz Es passierte plötzlich und unerwartet: Gemeinsam mit ihrem Ehemann nimmt eine Vorarlbergerin einen Kredit auf. Dann verstirbt ihr Partner überraschend. Die Seniorin kann den Kredit mit ihrer Pension alleine nicht mehr zahlen. In ihrer Not sucht sie die Mitarbeiter der Schuldenberatung auf. Auch ein junges Paar nimmt in einem Beratungszimmer Platz. Die beiden haben zu viel für die erste Wohnung und die Hochzeit ausgegeben. Wegen der Kinderbetreuung fällt ein Einkommen weg und sie kommen nicht mehr über die Runden. In finanzielle Schieflage geraten ist auch eine junge Frau. Sie musste ihr Unternehmen während Corona zusperren und sucht ebenso Unterstützung.
Dies sind drei Fallbeispiele, mit denen es die Mitarbeiter der Schuldenberatungsstelle des Instituts für Sozialdienste – kurz ifs – in ihrem Arbeitsalltag zu tun haben. „Zu uns kommen Menschen aus allen Schichten“, berichtet Leiterin Simone Strehle-Hechenberger. Die Mitarbeiter beraten sowohl Privatpersonen als auch ehemalige Selbstständige, die in finanzielle Schieflage geraten sind. Pro Jahr sind es im Schnitt 3000 Menschen, die sie unterstützen.
Deutliche Zunahme
Die jüngsten Entwicklungen bei den Schuldenberatungsstellen lassen aufhorchen. So kam es im vergangenen Jahr zu einer deutlichen Zunahme von Erstkontakten. Dabei geht es um Menschen, die noch nie Kontakt mit der Schuldenberatung hatten. Und dieser bedenkliche Trend setzt sich fort. „Im ersten Halbjahr 2023 haben wir mit 32 Prozent plus im Vergleich zum Vorjahr einen starken Anstieg bei den Erstkontakten wahrgenommen“, berichtet Strehle-Hechenberger auf VN-Anfrage. Im Vergleich zum Erstkontakt-Durchschnitt in den ersten sechs Monaten der vergangenen sieben Jahre handle es sich um über ein Viertel mehr Klientinnen und Klienten.
Die Gründe für den Anstieg sind altbekannt: Es geht unter anderem um die Folgen der Pandemie, Kurzarbeit, Arbeitsplatzverlust und Teuerung. „Wir wissen, dass es in wirtschaftlich schwierigen Zeiten zeitverzögert zu einem Anstieg des Bedarfs nach Schuldenberatung kommt“, erläutert die Expertin die Hintergründe des jüngsten Zuwachses und fügt hinzu: „Menschen, die in finanzielle Schwierigkeiten kommen, probieren zuerst viele andere Lösungswege aus, bevor sie zu uns kommen. Die Scham ist sehr groß.“
Multiple Krisen
Die multiplen Krisen der vergangenen Jahre hätten dazu geführt, dass vermehrt auch Klienten aus der Mittelschicht Rat suchen. „Inflation, viel zu hohe Wohnkosten, Ausgaben für Energie und steigende Kreditzinsen brauchen die Reserven auf und bringen jene zum kippen, die ohnehin schon knapp kalkuliert haben .“
Als häufigste Gründe für eine Überschuldung nennt Strehle-Hechenberger Einkommensverschlechterung oder Arbeitsplatzverlust, fahrlässiger Umgang mit Geld, gescheiterte Selbstständigkeit bei Männern und Bürgschaften oder Haftungen bei den Frauen sowie die Folgen von Scheidungen bzw. Trennungen. Oft sei es eine Kombination mehrerer Faktoren. „Die Teuerung führt dazu, dass die Armutsgefährdung steigt und manche in finanzielle Schieflage geraten, die es davor noch geschafft haben“, fügt die ifS-Schuldenberatungsleiterin noch hinzu.
Kommt es zu einer Lohnpfändung, wird es kritisch. Das Existenzminimum, also jenes Geld, das in solch einem Fall mindestens für eine Einzelperson übrig bleibt, liegt momentan bei 1100 Euro. „Das reicht nicht mehr zum Leben“, betont Strehle-Hechenberger einmal mehr. Die Armutsgefährdungsschwelle liege aktuell bei 1392 Euro. Für die Leiterin der ifs-Schuldenberatung ist klar, dass das Existenzminimum zumindest an die Armutsgefährdungsschwelle angehoben werden muss.
„Die Referenzbudgets des Dachverbands der Schuldenberatung, die eine minimale soziale Teilhabe, kein Auto und Urlaub mitberechnen, gehen von 1593 Euro aus.“ Dabei würden allerdings nur 558 Euro für Wohnen eingerechnet. „Das ist eine Wunschvorstellung für Vorarlberg.“
Hinzu komme, dass man sich eine Privatinsolvenz auch noch leisten können müsse. „Wer neue Schulden macht, weil zu viel gepfändet wird, kann nicht in den Konkurs gehen. Diese Menschen haben keine Perspektive.“ Und dies habe wieder massive Auswirkungen auf Familien, die Arbeitssuche und schließlich die Gesundheit der Menschen, die mit solch belastenden Situationen konfrontiert sind.
Forderungen an Politik
Des Weiteren sieht Strehle-Hechenberger auch Handlungsbedarf in Sachen Unterhaltsexistenzminimum. Dabei geht es um die Möglichkeit, bei Unterhaltsschulden nochmals 25 Prozent unter das Existenzminimum zu pfänden. Dies müsse abgeschafft werden. „Stattdessen sollte der laufende Kindesunterhalt bei Pfändungen Vorrang vor allen anderen Forderungen haben“, meint die Leiterin der ifs-Schuldenberatung, die politischen Handlungsbedarf eben bei der Zinsspirale und in Sachen leistbarem Wohnraum sieht.
Bei der Schuldenberatungsstelle wird momentan nicht damit gerechnet, dass sich die Situation bald entspannt. „Wir haben jetzt schon sehr lange Wartezeiten und müssen Klienten bitten, sich nochmals zu melden, weil wir phasenweise keine Termine in den nächsten drei Monaten zu vergeben haben.“
„Die Teuerung führt dazu, dass die Armutsgefährdung steigt und manche in finanzielle Schieflage geraten, die es davor noch geschafft haben.“