Monika Helfer

Kommentar

Monika Helfer

Schicksalsberg

Vorarlberg / 23.01.2024 • 07:00 Uhr

„Ich hatte Todesangst, spürte ein Engegefühl in der Brust, Atemnot, diesen Vernichtungsschmerz, Schweißausbruch, Übelkeit – ich war nicht mehr ich selbst.“
„Broken Heart-Syndrom“, diagnostizierte der Arzt. „Sie können ein Unglück nicht ertragen.“
„Aber ich muss es ertragen!“, sagte die Frau. „Was bleibt mir anderes übrig? Ich muss weiter leben, obwohl mir das Liebste genommen wurde.“
„Ich schreibe Ihnen eine Adresse auf. Dort treffen sich Betroffene, solche, die Ihr Leid kennen. Die werden Ihnen helfen.“
„Das schaffe ich nicht“, sagte die Frau, „niemals schaffe ich es, vor Fremden meinen Kummer auszubreiten.“

So ging die Frau mit ihrer Tochter zu der Adresse, ließ sich vorstellen, setzte sich auf den bereitgestellten Stuhl und legte ihre Hände in den Schoß.


„Nehmen Sie eine Begleitung mit, hören Sie einfach nur zu wie Fremde erzählen, das allein wird Sie beruhigen.“
So ging die Frau mit ihrer Tochter zu der Adresse, ließ sich vorstellen, setzte sich auf den bereitgestellten Stuhl und legte ihre Hände in den Schoß. Die Tochter würde draußen warten, sollte sie gebraucht werden.
Gleich wurde sie gerufen, denn als ein Mann sein Leid klagte, fiel die Frau von ihrem Stuhl. „Es war noch zu früh für dich, Mama“, sagte die Tochter. „Komm zu mir, bis du über dem Berg bist, die Kinder werden dich ablenken.“
Zu ihrer Enkelin sagte die Frau: „Ich muss über den Berg, erst wenn ich wieder unten sein werde, habe ich es geschafft.“
„Über welchen Berg denn?“, fragte das Kind. „Kenne ich den, hat er einen Namen?“
„Es ist der Schicksalsberg, und der steht überall.“
„Nie davon gehört“, sagte die Enkelin. „Warst du schon einmal auf diesem Berg, Oma?“
„Ja, da war ich so alt wie du. Ich hatte eine Freundin mit dicken Zöpfen, der ich alles erzählte und sie mir auch. Ihr Stiefvater war eifersüchtig auf sie und jedes Mal, wenn ihre Mutter lieb zu ihr war, wurde er grob und strafte sie. Immer, wenn er sie an ihren Zöpfen zerrte und ihr androhte, sie ihr vom Kopf zu reißen, floh sie aus dem Haus. Sie wollte Gefährliches tun, das Schicksal herausfordern. Sie stellte sich vor, würde sie tot sein, stünde der Stiefvater an ihrem Grab und würde sie um Verzeihung bitten. Sie schaukelte so hoch, dass sich die Schaukel überschlug und sie auf einen Stein fiel. Sie war sofort tot. Ihr Stiefvater wurde magenkrank. Er machte sich Vorwürfe, weil er wusste, das war auch seine Schuld. Wäre er nur gut mit ihr gewesen!“
„Und der musste auch über den Schicksalsberg?“, fragte die Enkelin.

Die Frau blieb ein Jahr lang bei ihrer Tochter und war schon halb über dem Berg, da entgleiste der Zug, in dem sie auf der Heimfahrt war, und sie wurde hinausgeschleudert. Wie durch ein Wunder überlebte sie.

Monika Helfer

monika.helfer@vn.at

Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.