Monika Helfer

Kommentar

Monika Helfer

Doktor

Vorarlberg / 14.02.2024 • 10:00 Uhr

Der Doktor saß an seinem Schreibtisch und hörte, wie die Sprechstundenhilfe sagte: „Der Nächste bitte!“

Er streckte sich und legte die Hände flach auf die Tischplatte. Die Patientin war eine Frau in den mittleren Jahren. Sie trat zu ihm und wollte ihm die Hand reichen. Er schreckte zurück.

Die Patientin war irritiert und fragte: „Geht es Ihnen heute nicht gut, Herr Doktor? Sie sehen erschöpft aus.“

„Ausgelaugt, so als hätte man mich zu heiß gebadet, ich glaube, ich kann Sie nicht behandeln“, sagte der Doktor.

Tränen liefen ihm aus den Augen.

Er war versucht, seine Träume zu erzählen, so, als wären sie echt, als wäre sein Leben durch einen reißenden Fluss getrennt, den er jeden Tag überqueren müsse, um in die Ordination zu gelangen. Die Schwierigkeit bestehe darin, ein Boot zur Beförderung zu finden. Im Winter, wenn Eis auf dem Fluss sei, könne er versuchen, sich zu Fuß auf den Weg zu machen, immer mit der grausamen Angst einzubrechen. Seine liebe Familie wohne auf der Gegenseite. Also jeden Abend habe er das Verlangen, zu seiner Familie zurückzukehren, müsse wieder über den reißenden Fluss.

Die Patientin war irritiert und fragte: „Geht es Ihnen heute nicht gut, Herr Doktor? Sie sehen erschöpft aus.“

Er habe seiner Frau verboten, mit den Kinder über den Fluss zu gehen, viel zu riskant. Sie warten jeden Abend mit dampfendem Essen auf ihn, sein Bett sei gewärmt, seine Kinder und seine Frau seien immer nur liebevoll mit ihm, besorgt. Er sei heute auf dem Eis über den Fluss gerutscht, hinein in die kalte Ordination, vorbei an einer großen Anzahl von kranken Menschen, die sich von ihm Hilfe erhofften, Rezepte mit gesundmachenden Pillen. Er habe schreckliche Angst zu versagen.

Ob sie, die eigentliche Patientin, das verstehe. Was ihr überhaupt fehle.

„Nicht ich“, sagte die Patientin, „bin hier die Hauptperson, Sie sind der bedürftige Mann. Sagen Sie, wie kann ich Ihnen helfen?“

„Ach, gute Frau“, sagte der Doktor, gerührt von der Anteilnahme, „wenn Sie mir nur zuhören, bin ich schon halb gerettet. Vor allen Dingen sollten Sie mir Ihre Krankengeschichte erzählen, und ich suche mir eine Lösung für Sie aus.“

Der Doktor beugte sich vor und nahm jetzt die Hand der Frau.

„Wenn Sie wüssten, wie gut mir das Gespräch mit Ihnen tut, beinahe habe ich das Gefühl, dass ich wieder ordinieren kann.“

„Es wäre zum Wohle der Patienten. Man spricht nur in den höchsten Tönen über Ihr medizinisches Können“, sagte die Frau.

Monika Helfer

monika.helfer@vn.at

Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.