Eine Geschichte von Angst und Mut

Der Tod von Alexej Nawalny erschüttert viele Menschen auf der ganzen Welt. Der russische Jurist, Antikorruptionsaktivist und Oppositionspolitiker ist nach einem lebensgefährlichen Giftanschlag 2020, den er nur knapp überlebte, dennoch von Deutschland nach Russland zurückgekehrt, wo er sofort festgenommen wurde. 2021 wurde er zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt und kam am vergangenen Freitag unter bisher ungeklärten Umständen in einer sibirischen Strafkolonie um. Russlands Präsident Wladimir Putin, gegen dessen Staatsapparat Nawalny massiv auftrat, hat sich nicht zum Tod des Dissidenten geäußert.
Alexej Nawalny hat sich von seiner Angst, nach Russland zurückzukehren, befreit und sich für die Zuversicht entschieden.
Alexej Nawalny wurde 47 Jahre alt. Seine politische Agenda war wegen seiner Teilnahme an nationalistischen Märschen in den 2000er-Jahren nicht unumstritten, bei den Veranstaltungen fanden sich unter anderem russische Nazis im Publikum. Später hat Nawalny einige seiner Äußerungen aus dieser Zeit bedauert. In den letzten zehn Jahren konzentrierte er sich auf den Kampf gegen Korruption in Russland – und gegen Putins Regime. Seine Geschichte ist eine von Angst und Mut, eine zutiefst menschliche Geschichte.
Die Angst zulassen
Ängste werden von vielen so gerne verdrängt, doch sie gehören zu uns. Der große dänische Philosoph Sören Kierkegaard erklärt 1844 in seinem Werk „Der Begriff Angst“ die Angst als Grundzug des Menschen. Er unterscheidet sie von der Furcht – man fürchtet sich „vor“ etwas, aber man „hat“ Angst. Kierkegaard bewertet die Angst allerdings nicht nur negativ, denn sie bietet dem Menschen auch viele Möglichkeiten, unter denen er wählen kann und muss. Angst ist für den Philosophen die Bedingung der Möglichkeit von Freiheit. Umgelegt auf unsere heutige Welt könnte das heißen: Die schwierige Aufgabe besteht darin, Angst zuzulassen und mit ihr umzugehen.
Wir können unsere Ängste in etwas anderes übersetzen, neue Möglichkeiten finden, wenn wir alte Muster überwinden. Alexej Nawalny hat sich von seiner Angst, nach Russland zurückzukehren, befreit und sich für die Zuversicht entschieden. Karl Habsburg, der Nawalny nach dem Giftanschlag 2020 in Deutschland kennenlernte und den Regimegegner unterstützte, erzählt jetzt in einem Interview mit der Kleinen Zeitung, was seinen Freund vor der Rückkehr nach Russland bewegt hat: „Viele haben ihm zugeredet, es nicht zu machen. Er ist schon davon ausgegangen, dass er nach der Rückkehr bald eingesperrt wird, aber er dachte: Irgendeinmal komme ich raus, und wir gehen in eine bessere Zukunft.“
Nawalny war auf einer Mission, das hat ihn wohl bestärkt, diesen Mut aufzubringen. Für eine Idee, die größer war als er selbst, größer als Politik – und am Ende auch größer als die Angst.
Julia Ortner
julia.ortner@vn.at
Julia Ortner ist Journalistin mit Vorarlberger Wurzeln, lebt in Wien und arbeitet für den ORF-Report.