Tatortreiniger
Einmal wieder besuchte ich unseren Sohn. Seine Wohnung ist immer gut aufgeräumt, es riecht nach armenischen Papierchen. Man zündet sie an, nimmt ihren Duft wahr, und schon ist man in einer anderen Welt. Seine Tochter sitzt neben ihm. Sie wirken angespannt.
Ich frage, ob ich störe und sie sagen, ich störe nicht.
„Was magst du trinken, Oma? Wir haben Himbeersaft.“
„Gern“, sage ich „Himbeersaft passt zu mir.
„Wir haben gestern in der Nacht eine Reportage aus der Ukraine angesehen“, sagt Marie, seither können wir nicht mehr normal denken.“
Von toten Männern war die Rede gewesen, lebendigen Körpern mit kaputten Seelen, leere Augen. Das sind die Tatortreiniger.
„Heißen die wirklich so?“, frage ich. „Es handelt sich doch um Kriegsschauplätze.“
„Papa sagt dazu Tatort, und die dort reinigen, nennt er Tatortreiniger.“
Sie kommen mit Lastwagen, auf denen verschieden Behälter aufgeladen sind. In die Behälter gehört ein bestimmter Abfall. Sie schauen, was noch zu reparieren ist. Das kommt in einen eigenen Sack. Die Säcke haben verschieden Farben und sind beschriftet. Die Tatortreiniger tragen hohe Gummistiefel, Schutzanzüge und Handschuhe, die bis zu den Ellbogen reichen. Keinen Mundschutz.
Von toten Männern war die Rede gewesen, lebendigen Körpern mit kaputten Seelen, leere Augen.
Ein Mann spricht: „Erst muss nach den Toten gesehen werden. Heute habe ich vier Kinderleichen in den hellblauen Sack gelegt, einer fehlte ein Fuß, einer der Kopf. Einzelne Gliedmaßen habe ich gefunden. Alles Menschliche muss in 11,20 Meter Tiefe begraben werden. Alles Menschliche muss dokumentiert werden. Um hygienischen Überständen vorzubeugen, um Epidemien zu vermeiden, muss täglich gesäubert werden. Tierkadaver müssen abseits von Wohngebieten verscharrt werden. Es gibt keine Wohngebiete mehr. Ich fand Radios, Fernseher, Nahrungsmittel, Reis auf dem Boden, Mehl auf dem Boden, Besteck, Muttergottes-Bilder in zersprungenen Rahmen. Wir gehen über Glasscherben, wir gehen über Leichen, wir stolpern über kaputtes Kriegsmaterial.“
Sie schreiben auf, was sie gefunden haben, alles muss dokumentiert werden.
Soldaten kämpfen um Gebiete, klein wie kleine Parzellen von Dörfern. Die einen gewinnen, die anderen verlieren, die Verlierer gewinnen. Sie verlieren Soldaten, sie schießen aus dem Wald.
Was hat noch Gültigkeit? Worauf kann man sich verlassen? Dass Mütter um ihre Kinder weinen, dass Frauen um ihre Männer weinen. Darauf. Was nützt es den Vätern, ihre Kinder erziehen zu wollen, wenn diese verbrecherische Ideale verherrlichen?
Was passiert mit unserer schönen Welt?
Es wird dunkel werden.
Monika Helfer
monika.helfer@vn.at
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
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