Thomas Matt

Kommentar

Thomas Matt

Ibrahim oder so ähnlich

Vorarlberg / 21.05.2024 • 14:25 Uhr

Mitte der 1970er-Jahre verdiente an einer Bregenzer Tankstelle ein Mann sein Geld, indem er Autos wusch. Er war klein von Wuchs und sehr flink. Wenn er sich der verdreckten Räder annahm, bediente er die Lanzette virtuos. Alle liebten ihn. Viele gaben ihm großzügige Trinkgelder, nachdem er den Lack ihrer Nobelkarossen auf Hochglanz poliert hatte. „Der Ibrahim“, sagten sie, „ist wunderbar!“ Besonderes Lob packte ein Kunde in die Worte: „A ganz a prächtiges Türkle!“ Die Verkleinerungsform kam ihm nicht etwa hohnlächelnd über die Lippen. Er meinte es wirklich lieb. Er wusste es nicht besser.

Ibrahim hieß gar nicht Ibrahim. Das hat er mir eines Tages verraten, als er kraftvoll den Lederlappen auswrang. Aber sie nannten ihn so. Vielleicht eine kleine Anleihe bei Karl Mays „Durchs wilde Kurdistan“? Er hatte vier Kinder. „Der Älteste lernt brav!“, erzählte er freudestrahlend, während er in ausladenden Bewegungen über eine Kühlerhaube strich. Kaffee trinken sah ich ihn nie. Irgendwie war immer etwas zu tun. Die Tankstellenpächter waren gut zu ihm, sehr anständige Leute. Er hatte es „gut erwischt“, wie man sagt.

Ob seine Kinder ihren Weg gemacht haben? Keine Ahnung. Aber falls nicht – an ihm hat es bestimmt nicht gelegen. Ob er in der Pension „zurück in die Heimat“ übersiedelt ist? Vermutlich. Er hatte sich dort ein Haus gebaut, wie zigtausende andere „Gastarbeiter“ auch. Eines Tages zog er eine ganz zerknitterte Fotografie aus seiner Brieftasche. Ein Sehnsuchtsbild. Wenn Österreich dieser Tage des Anwerbeabkommens mit der Türkei vor 60 Jahren gedenkt, dann denken wir an Menschen wie Ibrahim, der in Wahrheit ganz anders hieß.