Monika Helfer

Kommentar

Monika Helfer

Hab ich gefunden – 2

Vorarlberg / 31.07.2024 • 09:15 Uhr

Diese Geschichte erzählte eine Frau und erlaubte mir, sie aufzuschreiben.

Und dann wurde das Mädchen mit dem Tausendschilling Schein als vermisst gemeldet und nie mehr gefunden. Sie müsste jetzt um die dreißig sein.
Ihr Bild war damals in der Zeitung gewesen, Unterschrift: „Wer hat dieses Kind gesehen?“ Ich bin sofort zum Stein vor meinem Haus gelaufen, habe nachgeschaut, ob die zehn Hundertschilling Scheine noch da sind. Sie waren nicht mehr da. Alle weg. Mein erster Gedanke: Das Mädchen hat sie geholt und sich davon eine Fahrkarte in die Steiermark zu ihrem Papa und ihren Brüdern gekauft. Was sollte ich tun? Zur Polizei gehen, von dem Geld erzählen, das sie gefunden und mir gegeben hat und das wir unter dem Stein versteckt haben für den Fall, dass sie etwas braucht? Von ihrer Mutter erzählen, die nicht alle Tassen im Schrank hat? Das klang so erfunden. Würde man mir glauben?

„Jetzt wusste ich wenigstens den Namen des Mädchens, weil er in der Zeitung gestanden hatte.“

Ich ließ einen Tag vergehen, eine Nacht. Ich kam zu keiner Ruhe. Jetzt wusste ich wenigstens den Namen des Mädchens, weil er in der Zeitung gestanden hatte. Wen hätte ich um Rat fragen können? Mein Mann war damals schon gestorben, er hätte mir geholfen. Ich wohnte allein, hatte nur meinen Sohn, den ich anrufen könnte, den ich aber nicht stören wollte. Sollte ich zur Mutter des Mädchens gehen, die mich nicht kannte. Wie das Mädchen mir ihre Mutter beschrieben hatte, würde die Frau vielleicht einen Anfall bekommen. Vielleicht würde sie mit einem Messer auf mich losgehen.

Schließlich stellte ich mich doch bei der Polizei vor und erzählte, was ich wusste. Ich erfuhr: Die Mutter des Mädchens vermutete, was ich vermutete, dass die Tochter zu ihrem Vater gefahren sei. Sie hatten gestritten, und das Kind war fortgelaufen. Aber beim Vater war es nie angekommen.

Immer wieder wurde in der Zeitung von dem vermissten Mädchen geschrieben. Ich will ihr keinen Namen geben. Der Gedanke hat mich nicht mehr losgelassen. Ich bin so weit gegangen und bin in die Steiermark gefahren, ich dachte, sie läuft mir über den Weg, als ob die Steiermark ein kleines Dorf wäre mit einem kleinen Marktplatz. In Graz bin ich ausgestiegen aus dem Zug. Ich hätte heulen wollen. Wegen meiner Dummheit. Und meinem Gottvertrauen. Ich habe mich in die Bahnhofsrestauration gesetzt und ein Gulasch gegessen. Ich war sehr hungrig. Dann habe ich mir eine Fahrkarte zurück gekauft.

Man hat sie nie gefunden. Ich habe immer an sie gedacht: Jetzt müsste sie zehn sein, jetzt fünfzehn, jetzt zwanzig, jetzt fünfundzwanzig, jetzt dreißig …

Wie es weitergeht, erfahren Sie nächsten Mittwoch an derselben Stelle.

Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.