Mein grüner Daumen
Nora hat einen grünen Daumen. Fritz hat einen grünen Daumen. Eigentlich komplett alle meine Nachbarn am Land habe einen grünen Daumen, ich sehs jeden Tag, wenn ich mit dem Hund an ihren Gärten vorbeispaziere. Und eine sehr liebe und sehr nahe Verwandte im Ländle hat natürlich überhaupt den allergrünsten Daumen, den ich kenne, logisch.
„Die Erbsen werden fett, und weil wir den Mangold nicht schnell genug aufessen, werfen seine riesigen Blätter Schatten auf die Gürkchen. “
Mit meinem Daumen ist es so eine Sache: Jeden Frühling ist er tiefgrün. Er pumpt Gärtnerinnen-Energie in meinen Organismus. Ich rupfe, ich grabe, ich zupfe, ich dünge die Erde mit reifem Kuhmist vom Bauernhof nebenan, ich säe, ich pflanze, ich konstruiere hochkomplexe Anti-Schneckensysteme aus Kupferdraht und Schmirgelpapier und Spatzen-Abwehrbarrieren aus glänzender Weihnachtsdeko. Ich schaue den Radieschen beim Wachsen zu, ich jäte, ich vermehre den Basilikum durch exakten Schnitt, ich esse den Zupfsalat und die frischen grünen Erbsle in genau dem Tempo, das ihre stete Erneuerung garantiert: endlich wieder frische, grüne Vitamine, fantastisch! So gut und so gesund! Der erste Mangold, toll. Die ersten Minigürkchen. Die ersten kleine Zucchini und dann werden endlich auch die Tomaten gelb, orange und ochsenblutrot.
Es gibt jeden Tag Salat: Grünen Salat mit frischen Radieschen, griechischen Sala, Caprese-Salat, Nudelsalat, Salat mit Quinoa und Kichererbsen, Bohnen-Salat, Salat mit Mangold-Soparnik oder Zucchini-Quiche, so super, ich liebe Salat.
Aber dann passiert’s, jedes Jahr: Irgendwann schießt der Pflücksalat in die Höhe. Der Koriander blüht aus. Die Erbsen werden fett, und weil wir den Mangold nicht schnell genug aufessen, werfen seine riesigen Blätter Schatten auf die Gürkchen. Die Schnecken kümmern sich nicht mehr um meine Abwehrsysteme. Und ich kann meinem Daumen dabei zusehen, wie ihr Frühlingsgrün verblasst und sie zu den Daumen der faulen Gärtnerin werden, die ich eigentlich bin.
Ich schaue dann einfach irgendwann nicht mehr hin. Lass alles wachsen wie es will, und zupf mir aus dem Urwald meine Gurken raus, die endlich reifen Paprika und was ist denn das da eigentlich? Ach ja, ich hatte ja auch Melanzini gepflanzt! Bei der sehr nahen Verwandten im Ländle würde sowas nie passieren: ihre Beete sind immer piccobello, sie hat die größten Erdäpfel, die besten Tomaten und knackige kleine Gürkchen zum Sauafuattara, wie man bei uns sagt.
Was bei mir allerdings nie vor dem Spätherbst endet: meine Caprese-Liebe. Grobe Stücke von sonnensaftigen, aromatischen Tomaten und saftigem Mozzarella, vermischt mit viel gutem Olivenöl und frisch gezupftem Basilikum: das wird mir nie langweilig. Das kann ich jeden Tag essen, und wenn die Schnecken den Basilikum gefressen haben, halt auch ohne.
Doris Knecht ist Kolumnistin und Schriftstellerin. Sie lebt mit ihrer Familie in Wien und im Waldviertel.
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