Hab ich gefunden – 6
Diese Geschichte erzählte eine Frau und erlaubte mir, sie aufzuschreiben.
Ich hörte Walli in der Nacht im Wohnzimmer herumgehen. Ich überlegte, ob ich sie jetzt noch einmal fragen sollte, wovor sie davon gelaufen war. Und dass ich nicht möchte, wenn sie mich weiter „Tante“ nennt.
„Jetzt redete es aus mir heraus, ich erzählte etwas und erfand alles, damit die Frau Mitleid hat.“
„Ich muss von Anfang erzählen,“ sagte sie, „damit du dich auskennst, Tante. Ich wusste nicht, was ich tun soll, als ich in Graz am Bahnhof gestanden bin. Zurückfahren zu meiner Mutter? Bitte, nein! Ich hatte außer dem Fahrgeld, den Stoffschuhen und zweimal Jause kein Geld ausgegeben. Eine Frau im Rollstuhl schob sich neben mich und fragte, ob mir etwas fehlt. Wenn du zu wenig Geld hast, sag es mir. Das sagte sie. Drei Tage hatte ich mit niemandem geredet. Jetzt redete es aus mir heraus, ich erzählte etwas und erfand alles, damit die Frau Mitleid hat. Dass ich irgendwo in Deutschland wohne, sagte ich. Und sie sagte: Wir auch! Wenn du willst, kannst du ein Stück mit uns mitfahren, mein Mann kommt gleich, du kannst dir während der Fahrt überlegen, was du möchtest. Ihr Mann gab mir einen Pfirsich, der saftig war und auf mein Schulkleid tropfte. Ich muss schlimm ausgesehen haben, meine Haare wie ein Besen. Ich kam den beiden gerade recht. Das ist die Wahrheit. Die fragten nicht weiter nach. Der Mann suchte nämlich eine Hilfe für seine Frau. Er dachte, ich könnte das sein, zumindest bis zum Ende der Ferien. Als er mich fragte, wie alt ich bin, sagte ich dreizehn. Die Schule hatte angefangen, und ich wohnte immer noch bei diesen Leuten. In Frankfurt. Mit dem Mann hatte ich wenig zu tun. Die Frau war ok. Ihr Kind war bei der Geburt gestorben, seither war sie gelähmt. Komisch.
Ich weiß nicht, wie ihr Mann das mit mir geregelt hat, jedenfalls wurde ich nach einem Jahr von den beiden adoptiert oder so und seither heiße ich so wie sie. Schon sechs Jahre lang. Sie spielte Schule mit mir. Sie sagte, so würde ich gescheiter werden als die anderen. Ich lernte English und Französisch, Mathematik nur ein bisschen, aber es hat gereicht. Ich bin geprüft worden. Offiziell. Dann ist sie gestorben, meine Ziehmutter oder so. An einer Infektion oder so. Und dann wurde ihr Mann überfahren. Ich lüge nicht, Tante! Von einem, der bei sechzig hundertfünfzig gefahren ist. Dann gings um das Erbe. Ein Neffe tauchte auf.“
„Und das ist wirklich die Wahrheit?“, fragte ich.
„Wirklich die Wahrheit“, sagte sie.
Wie es weitergeht, erfahren Sie nächsten Mittwoch an derselben Stelle.
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
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