Dr.-Toni-und-Rosa-Russ-Preis: Wenn “Hauptsache gesund” nicht alles sein kann

Judith Bechtold und Ingrid Rüscher und ihr Einsatz für Inklusion mit dem 55. Dr.-Toni-und-Rosa-Russ-Preis und -Ring geehrt.
Von Mirijam Haller und Matthias Rauch
Bregenz Ein gemeinsames, gutes Leben für alle. Dies ist das Ziel von Judith Bechtold (69) und Ingrid Rüscher (66), die am Montagabend mit dem 55. Dr.-Toni-und-Rosa-Russ-Preis und -Ring für ihr anhaltendes Engagement, diesen Wunsch umzusetzen, gewürdigt wurden. Mitten im Publikum der Anstoß dieser Auszeichnung: Menschen mit Beeinträchtigung, deren Angehörige, deren Eltern. Personen, die gemeinsam mit den beiden Frauen seit über 35 Jahren um einen Platz am Tisch der sichtbaren Gesellschaft kämpfen.

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“Hauptsache gesund. Das kommt Ihnen sicher bekannt vor. Diesen Satz hört man oft, wenn man fragt, was wird es denn, Mädchen oder Bub. Während der Schwangerschaft stellt man sich vor, wie das Kind wohl sein wird und denkt an ein gesundes Kind. Das war bei uns in den 1980er Jahren auch so”, erinnert sich Bechtold. “Ja, und was passiert, wenn das nicht so ist?” So erging ihr bei der Geburt ihrer Tochter. “Wenn du dann ein Kind mit einer Behinderung bekommst, ist das ein traumatisches Erlebnis, ein Schock. Das Leben wird auf den Kopf gestellt, nichts ist mehr wie davor. Sorgen und Ängste stehen im Vordergrund und die Frage, wie kann so ein Leben mit einem Kind mit Behinderung aussehen?”

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Rüschers Tochter entwickelte sich in der Kindheit nicht wie andere Kinder in ihrem Alter. Aus dem ersten Treffen zwischen Judith Bechtold und Ingrid Rüscher entwickelte sich eine tiefe Freundschaft, die nun schon seit über 30 Jahren andauert. Gemeinsam war beiden, dass sie ihre Töchter im Ort verwurzelt, als Teil der Gesellschaft sehen wollten. Durch die vielfältigen Anregungen der als normal wahrgenommenen Welt wachsen können. “Es kann doch nicht so schwierig sein, die Rahmenbedingungen zum Kind zu bringen und nicht umgekehrt, das Kind zu den Rahmenbedingungen”, fasst Bechtold die gemeinsame Forderung zusammen, die bis heute Gültigkeit hat. Vor 30 Jahren in Vorarlberg unvorstellbar und die Geburtsstunde von “Integration Vorarlberg”. Die Eltern und Kinder als Bittsteller vor den Behörden forderten Recht statt Gnade. Erreichten inklusive Schulformen und die Schaffung der Spagat-Arbeitsplätze. Rüscher erlebte eine Aufbruchstimmung, die Ende der 1980er Jahre von Schulversuchen in anderen Bundesländern profitierte. Doch sie mussten sich rechtfertigten gegenüber den Vorwurf, dass sie ihren eigenen Kindern ohne Schonraum schaden würden.


Private Initiative als Fundament der Gesellschaft
Bis heute sind beide Mitbegründerinnen in dessen Vorstand aktiv, über die eigene Betroffenheit hinaus im Einsatz für Familien, die den inklusiven Weg wählen wollen. Ein bemerkenswertes Engagement und leuchtendes Beispiel privater Initiative als Fundament einer solidarischen Gemeinschaft, wie Herausgeber und Schirmherr Eugen A. Russ betonte. “Ihre Initiativen haben nicht nur das Leben vieler Menschen direkt verbessert, sondern auch unsere Gesellschaft insgesamt bereichert”, betont er vor den über 550 geladenen Gästen auf der Werkstattbühne des Bregenzer Festspielhauses. Die Anwesenheit von Finanzminister Magnus Brunner, der Landesstatthalterin Barbara Schöbi-Fink und zahlreicher Landesräte, Bischof Benno Elbs und weiterer Vertreter der Vorarlberger Gesellschaft verleihe diesem Abend Bedeutung.

Der Einsatz Bechtolds und Rüschers aus eigenem Antrieb über das Selbstverständliche hinaus ebnete Wege, die Inklusion in der Gesellschaft insgesamt möglich machten. “Sie, liebe Preisträgerinnen, sind Helden”, verwies Russ auf den anhaltenden Kampf, Menschen mit Handicaps und ihr Leben zu einem Teil unser aller Leben zu machen.


Sie sehen sich bis heute dennoch weiterhin Herausforderungen in den Köpfen der Menschen gegenüber. Daher auch der Wunsch der beiden Preisträgerinnen: Mehr Mut, mehr Selbstverständlichkeit, mehr Menschlichkeit im Umgang mit jenen, die auf Unterstützung angewiesen sind. Denn ihr Kampf begrenzt sich nicht nur auf Menschen mit angeborenen Beeinträchtigungen: “Übrigens Hauptsache gesund. Dieser Wunsch steht nicht nur am Anfang des Lebens. Er begleitet uns ein Leben lang. Und wenn es nicht so ist, brauchen wir eine Gesellschaft, die darauf vorbereitet ist”, erinnern sie als Abschluss des Abends.
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Zu den Personen
JUDITH BECHTOLD
zählt zu den Gründungsmitgliedern von Integration Vorarlberg und ist bis heute an vorderster Linie aktiv. Sie engagiert sich gemeinsam mit dem Verein „Gemeinsam Bauen und Wohnen“ auch für inklusive Wohnlösungen.
ALTER 69
WOHNORT Lochau
BERUF Architektin i.R., engagiert
HOBBYS Lesen, Wandern, und ist gerne in Gesellschaft
INGRID RÜSCHER
ist seit der Gründung 1989 die Vizeobfrau von Integration Vorarlberg und ist Mitinitiatorin des Arbeitsplatzprojekts SPAGAT.
ALTER 66 Jahre
WOHNORT Andelsbuch
LAUFBAHN Ausgebildete Pädagogin für hauswirtschaftliche Berufsschulen; mehrjährige Lehrtätigkeit, bevor sie in die Arztpraxis ihres Mannes wechselte. Medizinische Weiterbildung mit Schwerpunkt Ernährungsberatung.
HOBBYS Skifahren, Langlaufen, Radfahren