Der Tag danach
Am Tag danach geht man durch die vertrauten Gassen der Stadt, oder über den Platz des Ortes, in dem man wohnt. Beim Einkaufen blickt man in die anderen Gesichter. Man scrollt sich durch die sozialen Medien. Was hat sie gewählt, was er? Was ist ihr in der Vergangenheit zugestoßen, das ihre Wahlentscheidung beeinflusste? Welche Sorgen hat er? Gingen die wählen, und wenn nicht, warum nicht? Ist sie eine von den vielen, denen ihre demokratischen Grundrechte so wenig bedeuten, dass sie bereit sind, darauf zu verzichten und die sich jetzt über das Wahlergebnis freuen? (Oder ist das einfach vielen schon zu abstrakt, dieser Begriff: Demokratie? Oder: Demokratieabbau?) Der Tag danach: Er ist schwierig. Man spürt für ein paar Stunden die ideologischen Gräben, die das Wahlergebnis in Zahlen goss, die unterschiedlichen Wünsche, wie das Land in Zukunft aussehen, wer das Sagen haben, wo die Reise hingehen soll.
„Und letztlich überstehen wir alle es nur, wenn wir die Welt wie ein kleines Dorf betrachten.“
Am Tag danach ging ich mit dem Hund durch mein Dorf. Es war der Vormittag nach der letzten kritischen Hochwasser-Nacht. Die Sonne schien auf die Gesichter der Leute, die ich traf und sie schien auch aus ihren Gesichtern heraus, denn das Hochwasser hatte uns verschont. In vielen Kellern stand das Wasser, aber alle Wohnhäuser unseres Dorfes, das ein Stück unterhalb der drei Kamp-Stauseen liegt, sind trocken geblieben. Vier Tage und vier Nächte lang wurde gebangt: Die freiwillige Feuerwehr evakuierte Menschen und Nutztiere, baute Dämme aus Betonquadern, gab Sandsäcke aus und hielt alle, die nahe am Wasser wohnten, in der Dorf-Whatsapp-Gruppe am Laufenden. Die örtlichen Feuerwehren und die Leitung der Stauseen standen im ständigen Kontakt, und die Stauseen wurden diesmal, anders als beim Hochwasser 2002, so millimetergenau reguliert, dass, arschknapp, in den Dörfern direkt darunter kein Haus zu Schaden kam. Alle hielten und arbeiteten zusammen, und am Tag danach war man eine erleichterte Einheit: ein Dorf, das es gemeinsam überstanden hatte.
Und letztlich überstehen wir alle es nur, wenn wir die Welt wie ein kleines Dorf betrachten. Man ist über viele Dinge anderer Meinung. Weltanschauungen decken sich nicht. Man würde Dinge anders machen, wenn man das Sagen hätte, man hat andere Ängste, unterschiedliche Erwartungen an die Zukunft.
Aber das Zusammenleben funktioniert nur, wenn wir trotz allem im Gespräch bleiben, wie in einem kleinen Dorf. Man ist freundlich miteinander, weil wir irgendwie in den gleichen Welt leben, mit letztlich ähnlichen Hoffnungen: Wir wünschen uns Sicherheit, ein friedliches Leben und ein bisschen Glück für uns und für die Menschen, die wir lieben.
Und wenn das Hochwasser kommt, dann halten wir zusammen.
Doris Knecht ist Kolumnistin und Schriftstellerin. Sie lebt mit ihrer Familie in Wien und im Waldviertel.
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