Christian Rainer

Kommentar

Christian Rainer

Vergessen Sie Wien!

Vorarlberg / 04.10.2024 • 14:38 Uhr

Die beste deutschsprachige Zeitungsredaktion (ein überstandiger Ausdruck) mit einem hervorragenden Österreich-Teil, das Hamburger Wochenblatt (ebenso veraltet das Wort) „Die Zeit“, schreibt in ihrer dieswöchigen Ausgabe: „Der Wahlsieg von Herbert Kickl markiert das Ende der Zweiten Republik, wie wir sie kennen.“ Ich bin ein alter Hase am Feld, und ich widerspreche freundlich: Mit eben jenem Satz hatten wir schon die Nationalratswahl 1999 gekennzeichnet. 1999 sammelte die FPÖ 27 Prozent der Stimmen ein. Ein Vierteljahrhundert später sind es 29 Prozent. Zwei Prozentpunkte Unterschied, das hebt die Zweite Republik nicht aus den Angeln. Es täuscht die Optik: Die Freiheitlichen haben eine relative Mehrheit errungen und zwar eine kleine. Zählte man die Neos der ÖVP zu (1999 gab es das Liberale Forum – aber mit nur 3,6 Prozent), dann sähe die bürgerliche Welt ja ganz anders aus.

„Kickl als Kanzler, das ist zwar der Wunsch der Wirtschaft, aber derzeit nicht wahrscheinlich.

Warum rede ich entgegen meinem notorischen Alarmismus den Platz Eins der FPÖ klein? Weil mich das Geschwafel vom Wählerwillen ärgert. 71 Prozent haben sich anders entschieden. Parteien werden gewählt, Regierungen werden gebildet. Das ist Demokratie. Das von Herbert Kickl wenig subtil geforderte Recht der Freiheitlichen auf den Kanzler würde zu einem Diktat einer Minderheit führen. „The winner takes it all“, die Macht der relativen Mehrheit, gibt´s im angelsächsischen Raum, bei uns aber nicht.

Genau genommen war es freilich nicht die Wahl 1999, die damals erregte. Vielmehr echauffierte sich das Wochenmagazin (zur Jahrhundertwende noch zeitgemäß die Bezeichnung) profil erst am 7. Februar 2000. „Schande Europas“ lautete der Titel, man sah Wolfgang Schüssel und Jörg Haider beim Paraphieren eines Koalitionsvetrages, die FPÖ stellte fortan die Vizekanzlerin. Das und nicht die Wahl markierte einen Wendepunkt in der Zweiten Republik, wenn auch nicht ihr Ende. Somit wäre es nun Herbert Kickl als Kanzler, der eine vergleichbare Wegmarkierung festmachen könnte. In Europa würde das allerdings keine hohen Wellen mehr schlagen. Italien ging ja mit einer Neofaschistin als Regierungschefin formal voran. Ungarn und Polen zeigten, was inhaltlich möglich ist. Kickl als Kanzler, das ist zwar der Wunsch der Wirtschaft, aber derzeit nicht wahrscheinlich.

Wahrscheinlicher ist: ein FPÖ-Landeshauptmann in der Steiermark und vielleicht sogar in Vorarlberg. Das und nicht die Nationalratswahl würde Gravitationswellen auslösen, würde die österreichische Raumzeit verändern. Nach 1945 gab es nur einen freiheitlichen Landeshauptmann, Jörg Haider, und das gleich zwei Mal. Wer sich daran erinnert, weiß, was das bedeutet. Wenn man den Einfluss der Bundesländer in dieser Republik ausmisst, kann man das gewichten. Mario Kunasek und Christof Bitischi? Wer die beiden kennt, kann auch einschätzen, welchen Machtzuwachs ein FPÖ-Sieg in den Ländern vor allem für Herbert Kickl bedeuten würde.

Aber wahrscheinlich muss man die beiden Sphären auch kurzfristig verbinden: Wenn die Freiheitlichen in der Steiermark (allenfalls auch in Vorarlberg) vor der Volkspartei landen, dann wackelt die Brandmauer in Wien. Dann kommt einiges ins Rutschen. Dann wird eine blau-schwarze Koalition im Bund wahrscheinlicher.

Christian Rainer ist Journalist und Medienmanager. Er war 25 Jahre lang Chefredakteur und Herausgeber des Nachrichtenmagazins profil.