Der Diktator
Nach Jahren seiner Herrschaft bemerkte der Diktator unter seiner rechten Achsel einen kleinen harten Punkt. Er griff ihn mit dem Finger ab, drückte ihn, versuchte, ihn zu verschieben. Der Punkt schmerzte nicht und behinderte nicht, und so vergaß er ihn. Dann aber, mitten in einem Staatsbesuch, fiel er ihm wieder ein. Er trug eine Uniform, die ihm etwas eng geworden war. Er meinte, der Punkt sei gewachsen. Wenig, aber doch. Er erinnerte sich an die Stelle, sie befand sich noch in den Achselhaaren, aber schon am Ansatz zum Arm. Wenn er die rechte Hand vor- und zurückbewegte – was bei den vielen Begrüßungen nicht umgangen werden konnte –, spürte er, dass der Punkt nun nicht mehr ein bloßer Punkt war, sondern an Höhe gewonnen hatte – nicht viel, aber genug, so dass er bei Bewegung eine Reibung verursachte. Ungeduldig wartete er die Zeremonie ab, bei den anschließenden Verhandlungen war er mürrisch, bisweilen aufbrausend, geistesabwesend, zuletzt aber nachgiebig, was gar nicht seiner Art entsprach, so dass sich sein politisches Gegenüber wunderte und sich auf eine Finte gefasst machte. Brüsk verabschiedete er sich und ließ sich nach Hause fahren. Seine Frau wollte wissen, wie es gelaufen sei. Ob sich unser Land habe behaupten können. Ob die Erpressungen des Auslands eingedämmt werden konnten. Ob die Attachés seinem Blick hatten standhalten können, seinem berühmten Blick von unten herauf. Er sagte, er sei erschöpft, er wolle sich in die Badewanne legen. Am Abend vor dem Fernseher werde er ihr alles im Detail schildern.
Im Badezimmerspiegel betrachtete er den Punkt zum ersten Mal. In der Farbe unterschied er sich nicht von seiner Umgebung. Der Diktator war ein stark behaarter Mann, seine Achselhöhlen, auch wenn er frisch aus der Badewanne stieg, rochen immer etwas zwiebelig. Mit dem Bartschaber entfernte er die Haare um den Punkt herum. Er sah und fühlte, dass dieser inzwischen erbsengroß geworden war. Aber so, als steckte die Erbse in der Haut. Es wird eine Art Abszess sein, dachte er. Dagegen sprach, dass die Stelle immer noch, auch nicht ein bisschen weh tat. Was bei einem Abszess ja der Fall sein würde. Er nahm aus dem Regal seiner Frau eine Tube und bestrich die Stelle mit Creme.
Keinem Menschen traute der Diktator, gerade seiner fünfjährigen Enkelin brachte er ein Gefühl entgegen. Einmal überraschte sie ihn im Badezimmer beim Betrachten seiner Unzulänglichkeit, und da sagte er: „Hol eine Nadel aus dem Nähkorb und damit steche in diesen Punkt.“ Das Mädchen tat wie ihm geheißen, aber der Punkt rührte sich nicht und fühlte sich an wie ein Stein.
„Dann lassen wir das“, sagte der Diktator. „Geh wieder zu deinen Puppen und versprich mir, dass du niemandem von dem Punkt erzählst.“
„Versprochen, Großvater“, sagte die Enkelin und verneigte sich.
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
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