Der verwundete Westen
Frau Ammann wirkt ein bisschen ratlos, angesichts der seltsamen Wandlungen, die sich in der Welt vollziehen. Das radikal Andere. Regellos. Zeitenwende. Als man sich, nach dem Zivilisationsbruch der Weltkriege, zu einem kollektiven Konsens unter einer UN Charta und schließlich einer Europäischen Konvention versammelt hatte, die Bürger und Menschenrechte garantieren sollte, basierend auf Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Gleichheit, Gewaltenteilung, Rede, Pressefreiheit und Toleranz als Insignien einer liberalen Demokratie, konnte sich in Europa tatsächlich eine blühende Lebenskultur entwickeln. Über 7 Jahrzehnte lang. Ein Erfolgsmodell, das es bis dato noch nie gegeben hatte. Eine halbe Milliarde Menschen in einem Staatenbund, der sich Frieden geschworen hatte, manifestiert in der EU. Nachkriegskinder wie Frau Ammann und ich gehören zu den glücklichsten Generationen, die je auf diesem Planeten gelebt haben. Demokratie und Kapitalismus hatten sich zu einem funktionierenden Gespann entwickelt und wir konnten, allen Unkenrufen zum Trotz, von der EU und auch vom Euro kräftig profitieren – den Engländern aber liegt der Brexit wie ein Krebsgeschwür im Magen.
„Kaum einer wollte noch mit verhaltensauffälligen Tyrannen rechnen, die ihren Machtrausch ausleben könnten.“
Allerdings – das Glück prosperierenden Aufbruchs in diese lange Friedenszeit machte viele Menschen und auch ihre Staatenlenker blauäugig und blind für die Verletzlichkeit dieses Gebildes. Kaum einer wollte noch mit verhaltensauffälligen Tyrannen rechnen, die ihren Machtrausch ausleben könnten.
Europa hatte es sich gemütlich gemacht, vielleicht zu gemütlich – bis eine neue Despoten-Generation auftauchte, mit Putin und Trump, die beide auf den obigen Wertekodex pfeifen und das Rad der Geschichte zurückdrehen wollen. Auf ihren Spuren tummeln sich willige Vasallen wie Orban, Fico, Weidel oder Herbert Kickl, der Trump bewundernd zum Wahlsieg gratuliert hatte, wissend, daß Europa Schaden nehmen wird, daß das „neue“ Amerika ins Patriarchat zurücktaumelt, die Evolutionstheorie in Frage stellt, das US -Bildungsministerium entsorgen will und neuerdings libertäre Oligarchen, die jede Form von Staatlichkeit verachten,die Zügel in Händen halten. Die Wertepartnerschaft des Westens hat seither ein großes Loch in der Brust.
Hätte die staatstragende Europa-Partei ÖVP den Hasardeur K. salonfähig gemacht, der auf Rache und Demütigungen aus war und ganz bewußt an die Sprachcodes der unseligsten Zeiten anstreift, dann wäre das die Selbstaufgabe all ihrer Prinzipien gewesen.
Außerdem : „Eine Festung Österreich wäre kein Schutzschild, sondern ein Käfig, der unsere Wirtschaft langfristig erstickt“. Diese kluge Aussendung des ÖVP Wirtschaftsbundes an die Blauen, hat wohl mitgeholfen den Spuk zu beenden. Man stelle sich vor, wir hätten einen Kanzler, der zwei Diktatoren hofiert, Menschenrechte beugen, Europa destabilisieren und sich nach Russland öffnen will. Meine brave konservative Mama hätte sich schon dreimal im Grabe umgedreht.
Reinhold Bilgeri ist Musiker, Schriftsteller und Filmemacher, er lebt als freischaffender Künstler in Lochau.
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