Dazwischen lagen nur elf Tage

Vorarlberg / 11.03.2025 • 16:07 Uhr
Menschen von Nebenan
Der 82-jährige Pensionist vertieft sich oft in das Ahnen-Fotoalbum über seine Vorfahren. HRJ

Menschen von nebenan – Ihr Alltag, ihre Sorge, ihre Wünsche: Hans Gratwohl hat innerhalb von kurzer Zeit seine Frau und seinen Sohn verloren.

FRASTANZ „Sie fehlen mir“, sagt er. „Sie fehlen mir sehr.“ Hans Gratwohl lässt sich auf einen Stuhl nieder, tastet nach der Kaffeetasse. Vier Jahre ist es her, seitdem sein Sohn und seine Ehefrau kurz nacheinander gestorben sind. Seitdem lebt der 82-jährige Pensionist allein in der Parterrewohnung seines Hauses in Frastanz. Nicht ganz allein. Der zehnjährige Mischlingsrüde Toni aus Rumänien ist sein treuer Gefährte.

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Hans Gratwohl hat bereits als Volksschüler die Mundharmonika gespielt. HRJ

„Hannes kam am 5. März 2021 durch einen Arbeitsunfall ums Leben. Er war 49 Jahre alt. Inge, seine Mutter, starb elf Tage später, am 16. März 2021.“ Seine Stimme zittert leicht – eine Folge der Parkinson-Erkrankung und der Erinnerung an die schwere Zeit. „Es war Freitagnachmittag und Hannes, der bei einem Bauunternehmen beschäftigt war, hatte eigentlich schon frei. Trotzdem fuhr er mit einem Lehrling zu einer Baustelle. Er wollte noch etwas nachprüfen“, schildert Herr Gratwohl, wie es zu dem Unglück gekommen war. Während sein Sohn und der Lehrling auf dem Gerüst standen, gab ein Teil nach und beide stürzten ab. Die Betonplatte, an der das Gerüst befestigt war, sei noch weich gewesen, „dadurch waren die Ankerschrauben locker“. Der Sohn erlitt einen Genickbruch und war sofort tot, der Lehrling wurde leicht verletzt.
„Und die Inge…“ Hans Gratwohl hält inne, denkt kurz nach. „56 Jahre waren wir verheiratet. Das ist eine lange Zeit.“ Seine Frau litt an einer Krebserkrankung. Fünf Jahre mit langen Spitalsaufenthalten und unzähligen Therapien lagen hinter ihr. Betreut von einer 24-Stunden-Pflegerin aus Rumänien, verbrachte die schwerkranke Frau die letzte Zeit ihres Lebens zu Hause. Ihr Mann war bei ihr, als sie ging.

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Den Kachelofen in seinem Haus, das Anfang der 1970er Jahre entstand, hat Hans Gratwohl selbst eingebaut. HRJ

Musikalisch geprägt

Hans Gratwohls Leben begann mitten im Zweiten Weltkrieg, am 24. Februar 1943, in Kennelbach. Dort ist er mit seinen Eltern und zwei Schwestern und zwei Brüdern aufgewachsen. Von der Besatzungszeit unter der französischen Armee habe er nicht viel mitbekommen: „Ich erinnere mich an Erdnussbutter und an Schokolade, die Soldaten uns Kindern schenkten. An mehr nicht.“ Sein Vater, betont er, war ein erstklassiger Musiker. „Er spielte Flügelhorn und Klarinette. Er hat mich musikalisch geprägt. Ich spiele Mundharmonika.“ Hans Gratwohl erhebt sich, holt das Instrument und spielt eine volkstümliche Melodie. Dann erzählt er vom Musikanten-Trio Rhi-Zigünar, dem er angehörte: „Wir musizierten auf Festen, Familienfeiern, in Seniorenheimen, in der Kirche.“ In den Jahren 2005 bis 2020 war das. Dann kam Corona und aus war es mit dem Musizieren.
Inge, die hier in der Region als Autorin von humoristischen Beiträgen und Liedtexten bekannt war, lernte er 1964 im Hotel Galina im Liechtensteiner Skiort Malbun kennen. „Sie hat dort serviert.“ Vier Jahre später wurde das Paar getraut. 1970 kam die erste Tochter zur Welt, 1972 der Sohn, 1974 war die jüngste Tochter da.

Meinen Alltag allein zu bewältigen, ist mittlerweile ein bisschen mühsam geworden.

Hans Gratwohl, Pensionist

In das Haus in Frastanz zog die Familie Gratwohl 1972 ein. „Ich habe beim Bauen überall selbst Hand angelegt“, bekennt er stolz. Den oberen Stock hat sein Sohn dazu gebaut. Dessen Witwe bewohnt ihn nun allein. Die zwei Gratwohl-Töchter sind längst ausgeflogen und haben eigene Familien. Die Jüngere ist Mutter von zwei Mädchen.

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Trotz der tragischen Ereignisse in seinem Leben ist Hans Gratwohl ein positiv gestimmter Mensch. HRJ

Noch immer selbstständig

Der berufliche Weg von Hans Gratwohl begann als Maschinenschlosserlehrling bei der Firma Doppelmayr in Wolfurt. Danach arbeitete er in verschiedenen Unternehmen in der Schweiz und in Liechtenstein, zuletzt war er Lagerist in einer Ruggeller Firma. Dort blieb er bis zur Pensionierung im April 2007.
Noch immer bewältigt der 82-Jährige seinen Alltag selbstständig. „Ein bisschen mühsam ist das mittlerweile schon geworden“, gibt er zu. Sein Wunsch ist daher, „dass ich weiterhin jeden Morgen aus dem Bett komme und alles selbst machen kann.“ Sind die Alltagstätigkeiten erledigt, der Hund Toni Gassi geführt und gefüttert, lehnt sich Hans Gratwohl in seinem bequemen Fernsehsessel zurück, blickt aus dem Fenster auf die Schweizer Berge, denkt an Inge und an Hannes, „und dann schau‘ma mal, was das Leben noch so bringt“.