Die falsche Krankheit
Ich kannte Lotte mit der altmodischen Frisur nur vom Hörensagen, ein unscheinbares Mädchen, dass vor einem Jahr die Schule verlassen hatte, um in ein Krankenhaus zu gehen. Man redete von einer unheilbaren Krankheit, die erst vage diagnostiziert worden war, ein komplizierter Gehirntumor. In der Schule habe sie schon unter schweren Kopfschmerzen gelitten und war von den Lehrpersonen mit Vorsicht behandelt worden. Ihre Fehlstunden wurden akzeptiert, immer gab es Gründe dafür, Entschuldigungen ihrer Eltern oder eines befreundeten Arztes.
Eine Kollegin hatte mir das Maturafoto gezeigt. Lotte steht in der letzten Reihe und hat die Augen geschlossen. Allein durch ihre Diagnose sei sie zu einer Berühmtheit an der Schule geworden und sie hätte es auch genossen. Mit Leidensmiene griff sie sich an die Schläfen. Sie hatte keine Freundinnen, jeder ging ihr aus dem Weg, um nicht in ihre Sache hineingezogen zu werden. Anscheinend hatte der Schuldirektor verlangt, man möge ihm die Diagnose erklären, so dass er sie verstehe, sonst könne er ihren Schulabschluss nicht gelten lassen
Bald wurde gemunkelt, ihre Krankheit sei erfunden, eine Strategie, sich interessant zu machen.
Einmal sei es geschehen, dass die Patientin mit ihren Eltern ins Direktorzimmer trat, und man hätte laute Schreie gehört, vom Vater, dem Direktor und der Mutter. Das Mädchen sei mit verweinten Augen auf den Korridor gestürzt und habe ihren Kopf gegen eine Glastür geschlagen, so lange, bis sie an der Stirn blutete und zusammenbrach. Tatsächlich lag sie dann in der Psychiatrie, und ihre Krankheit bekam einen anderen Namen.
„Sprich es aus“, sagte ich: „Sie ist verrückt.“
Verrückt zu sein, gefiel der Patientin nicht, die Gehirntumortheorie fand sie viel tragischer, und so wurde, wie auch immer, diese Krankheit wieder ins Spiel gebracht.
„Sie kann einem leid tun“, sagte ich.
Vor knapp einem Jahr las ich eine Todesanzeige und war mir sicher, dass es sich um die Patientin handelte. Wie aus der Anzeige herauszulesen war, starb sie durch einen fremdverschuldeten Unfall. Das gab wieder neue Rätsel auf.
Ich traf meine ehemalige Kollegin, auch sie hatte die Todesanzeige gelesen, war sich aber sicher, dass es sich nicht um die bekannte Patientin handelte. Namensgleichheiten gibt es, und ihr Name war gewöhnlich. Auch stimme das Alter nicht. Das Foto sah verschwommen aus, so dass sie nicht zweifelsfrei als unsere Patientin zu erkennen war.
„Was heißt Fremdverschulden?“, fragte ich.
„Wahrscheinlich vergiftet“, sagte die Kollegin, und ich dachte noch, wie herzlos, das zu sagen, gleichzeitig schien alles möglich.
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
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