Kolumne: Das Talent (2)
„Sieben ist grün, und drei ist gelb“, sagte Rebecca beim Frühstück. Sie aß nur eine halbe Semmel, dann war sie satt. Die Ovomaltine war süß und heiß.
Rebecca war ein braves Kind, wach war sie und lautlos. Die Augen weit offen. Das irritierte die Eltern. Sie fragten den Arzt, der lachte bloß. Sich über ein braves Kind zu beschweren! Rebecca sei ein gesundes, normales Kind, und die Eltern sollten sich glücklich schätzen. Und hübsch sei sie obendrein. Was den beiden auffiel, war, dass Rebecca mit ihren flinken Augen alles genau beobachtete. So als wolle sie es nie vergessen. Aber nichts dazu sagte.
Rebecca hatte ein herzförmiges Gesichtchen, und wenn sie lachte, zeigten sich zwei Grübchen. Sonst sah sie gewöhnlich aus, war immer sorgfältig angezogen, und die braunen Haare waren gebürstet. Aber wenn der Mund lachte, konnte man sich einbilden, die Augen tun es nicht.
Vater und Mutter verstanden sich gut, selten kam es zu Streitigkeiten, und wenn, dann nur, wenn das Geld nicht reichte. Rebecca konnte mit noch nicht einmal fünf Jahren schon schreiben und lesen. Die Mutter hatte es ihr nebenbei zeigen wollen und sich dann mehr als sehr gewundert, dass Rebecca alles so schnell aufnahm.
Sie fühlten sich dem Talent ihrer Tochter nicht gewachsen. Rebecca sollte wie jedes andere Kind behandelt werden. Im Geheimen hofften sie, das Talent würde sich mit der Zeit auswachsen. Auch dass sie so scheu war, sah der Vater mit Sorge. Die Mutter dagegen ängstigte sich, weil Rebecca hin und wieder so schaute, wie sie es nicht deuten konnte. Sie hoffte, es sei keine Kälte.
Die Familie wohnte zur Miete in einem kleinen Haus. Die Miete wurde ihnen angerechnet, und bald würde das Haus ihr Eigentum sein. Rundherum gab es einen Garten mit Blumen, die hatte die Mutter zusammen mit Rebecca gepflanzt. Auch darin war sie so geschickt, dass die Mutter zu ihrem Mann sagte, ich glaube, unser Mädchen wird eine Gärtnerin. Darüber war sie froh. Hinter dem Haus standen dreißig Nadelbäume – Rebecca hatte sie gezählt. Sie sagte dazu: Wald. Sie sagte: „Ab zwanzig Bäumen, wenn sie eng beieinander stehen, sollte man Wald sagen.“ Genauso drückte sie sich aus. Genau vor solchen Sätzen fürchteten sich Vater und Mutter.
Das Haus stand am Ende der Straße, die steil hinaufführte. Ganz oben, weit außer Sichtweite, war ein großes Haus, in dem Zwillinge wohnten, zwei Buben im gleichen Alter wie Rebecca. Sie interessierten sich nicht für Rebecca und Rebecca sich nicht für sie. Im Winter rodelten die Buben und johlten dabei. Sie hatten eine Seifenkiste, mit der sausten sie im Sommer und wendeten vor Rebeccas Haus.
Rebecca beobachtete sie vom Küchenfenster aus. Sie stellte sich das Gefühl der Schnelligkeit vor.
Fortsetzung nächsten Mittwoch.
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
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