Kolumne: Das Talent (4)
Rebecca trug das T-Shirt mit dem Wolfsmotiv. Lino wollte wissen, wo es das zu kaufen gibt. Das könnte er seinem Bruder Luis schenken, der in der Reha-Klinik war. Rebecca dachte, ich werde es waschen und es ihm schenken. Schenken muss weh tun, sagte sie sich. Das hatte ihr die Mutter beigebracht. Rebecca wusste nicht, ob das stimmt. Wenn es stimmt, dachte sie, ist es eine unwichtige Wahrheit.
„Wie geht es Luis?“, fragte sie Lino.
Lino war seit dem Unfall mit der Seifenkiste sehr still geworden. Er wollte nicht reden, sagte nur knapp, Lino müsse erst wieder gehen lernen, Spezialklinik, etwas Gröberes.
Wochen später sah Rebecca den Buben vom Fenster aus, im Rollstuhl saß er, Lino schob ihn. Der arme Luis, den sie seit dem Unfall nicht mehr gesehen hatte und das war vor einem halben Jahr gewesen.
“Wochen später sah Rebecca den Buben vom Fenster aus, im Rollstuhl saß er, Lino schob ihn.”
Da war wieder die Migräne. Ihr Magen rebellierte. Es flimmerte vor ihren Augen. Im Nebel war sie. Sie war jetzt in der ersten Klasse Gymnasium, die Eltern hatten abgelehnt, dass sie eine oder gar zwei Klassen überspringe. Lino fragte, ob sie seinem Bruder Nachhilfe geben könne, die Eltern würden zahlen. Jeden Nachmittag von 16 bis 18 Uhr im Wohnzimmer bei Rebecca, weil das ebenerdig lag.
Luis war irgendwie blöd geworden durch den Unfall. Er fragte Rebecca nach ihrer Lieblingsmusik und wunderte sich, dass sie keine hatte. Sie hörte nie Musik. Luis sah durch sein Elend älter aus, sehr blass, als hätte er in einer Höhle gehaust, an seiner Stirn und um seinen Mund waren Linien und Rillen wie bei Erwachsenen.
„Du denkst, dass ich kein Kind mehr bin“, sagte er. Rebecca wurde rot. „Hast du eine Cola für mich?“, fragte er. Hatte sie.
Er trank mit einem Strohhalm.
Rebecca zählte in ihrem Kopf die Gescheitheiten aller Menschen zusammen, die sie kannte: Vater, Mutter, Lino, Luis, die Lehrer und sonst noch ein paar. Das kam ihr nicht eingebildet vor. Sie wusste, dass sie nicht die ganze Gescheitheit eines Menschen erfassen konnte. Aber sie meinte, hochrechnen zu können. Sie meinte, es braucht nicht mehr als eine halbe Stunde, die sie mit einem Menschen zusammen ist, und sie kann seine gesamte Intelligenz abschätzen. Dabei schnitt Luis am schlechtesten ab und sie selbst am besten. Aber das kam ihr nicht eingebildet vor.
„Ich will nur dasitzen“, sagte Luis. „Ich werde eh nichts mehr lernen können, bis ich tot bin.“
Also saßen sie eine Stunde nur so da.
„Dann bis morgen um die gleiche Zeit“, sagte Rebecca.
Lino wartete am Gartentor auf seinen Bruder, wie ein Chauffeur.
Zu jeder Stunde brachte Luis ein Kuvert mit Geld mit. Das Geld verwahrte Rebecca unter der Matratze. Ihre Eltern wussten nichts davon.
Fortsetzung nächsten Mittwoch
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
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