Kolumne: Das Talent (5)
Rebecca schob Lois im Rollstuhl in den Wald mit den dreißig Nadelbäumen, in der Mitte stellte sie ihn ab.
Lous wollte im Moos sitzen. „Kipp den Rollstuhl um, dann kann ich herausrollen, du musst mich dann nur noch an den Baum lehnen“, sagte er.
Sie waren vierzehn, sie fühlte sich wie ein Kind, und er spielte wie ein Mann, er griff ihr an den Mund und wollte einen Kuss. Er hob mit der rechten gesunden die linke lahme Hand zu ihr empor. Sie drehte den Kopf weg und blätterte im Physikbuch, das er nie kapieren würde.
„Ich bin ein armes Schwein, küss mich“, sagte er.
Sie berührte mit geschlossenen Lippen seinen Mund und dachte, so ist es, wenn man einen Mann küsst. Mit geschlossenen Augen blieb sie eine Weile auf seinen Lippen. Wenn ich in einer Minute die Augen aufmache, dachte sie, ist er um die dreißig, wenn ich sie in fünf Minuten aufmache, ist er fünfzig. Wenn ich sie in einer Viertelstunde erst aufmache, ist er längst schon tot.
„Das ist nicht küssen“, sagte er. „Das jedenfalls weiß ich. Ich weiß, dass der Mond sich um die Erde dreht, mehr will ich gar nicht wissen. Schießen interessiert mich. Mit der Glock von meinem Papa hab ich schon geschossen. Er sagt ich bin ein Talent. Du bist auch ein Talent. Aber ein anderes als ich. Mein Bruder ist kein Talent, aber er ist hundertmal gescheiter als ich. Seit dem Unfall bin ich ein Depp.“
„Das stimmt“, sagte Rebecca.
„Das darfst du nicht sagen“, sagte er. „Du wirst von mir bezahlt, darum darfst du so etwas nicht sagen. Mein Papa sagt, ich habe das Talent, dass ich alles mit seiner Glock treffe, was ich treffen will. Morgen bring ich die Glock mit. Ich weiß, wo er den Schlüssel hat, der hat so viele Waffen, der merkt es nicht, wenn eine fehlt. Dann zeig ich dir, wie ich schießen kann. Ich kann dir ein Blatt vom Baum herunterschießen.“
„Da stehen nur Nadelbäume“, sagte Rebecca.
„Dann schieß ich dir eben eine Nadel vom Baum. Ich hab einen feuchten Arsch von eurem Moos. Nimm mein Handy aus meiner Tasche und ruf den Lino an. Er kann mich abholen, sag es ihm. Ich erzähle herum, dass ich dich geküsst habe. Das glaubt mir eh keiner.“
Lino und Rebecca schafften es nicht, Luis in den Rollstuhl zu setzten. Sie warteten, bis Rebeccas Vater von der Arbeit kam. Der schaffte es auch nicht. Lino sagte, das sei typisch für seinen Bruder, er macht sich extra schwer. Rebecca sagte, das geht nicht, kein Mensch kann sich schwerer machen, als er ist.
„Luis kann es“, sagte Lino. „Stimmt’s, Luis?“
„Stimmt“, sagte Luis.
Rebecca kippte den Rollstuhl um, so dass er auf der Lehne lag. Dann zogen Lino und Rebeccas Vater den Buben an den Beinen, schoben seinen Rücken auf die Lehne des Rollstuhls und stellten ihn auf. So ging es.
Luis sagte: „Es war ihre Idee, dass ich mich ins Moos setze.“
Lino sagte: „Wenn er sich erkältet, ist es deine Schuld.“ Später ermahnte Rebeccas Vater seine Tochter. „Ich weiß nicht“, sagte er, „ob die beiden gut für dich sind. Verlieb dich nicht in einen von ihnen. Tu das nicht! Das Geld kannst du nehmen, aber verlieben tu dich nicht!“
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
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